Redaktionsnetzwerk Südasien, Dezember 2023
Politische Krise und Autoritarismus: Seit Oktober findet eine Vertreibung von afghanischen Geflüchteten aus Pakistan statt. Ihre Zahl wird auf vier Millionen geschätzt, wobei allein nach der Rückkehr der Taliban an die Macht im August 2021 600.000 bis 800.000 Afghan*innen nach Pakistan geflohen sind. Zunächst hatte die Regierung ‚nur’ Afghan*innen ohne Dokumente – geschätzte 1,7 Millionen - aufgefordert, das Land bis Ende Oktober freiwillig zu verlassen. Nach offiziellen Angaben sollen daraufhin in den vergangenen zwei Monaten bereits 400.000 Afghan*innen Pakistan den Rücken gekehrt haben. Viele Geflüchtete leben seit Jahrzehnten in Pakistan oder sind sogar dort geboren, haben aber nie die pakistanische Staatsbürgerschaft bekommen. Während sich nur die Minderheit wohlhabender Afghan*innen Häuser mieten konnte, lebt die große Mehrheit der armen Geflüchteten in den Flüchtlingslagern vornehmlich im Nordwesten des Landes. Sie gelten seit langem dem pakistanischen Staat als wirtschaftliche Belastung und als Sicherheitsrisiko, weil sich unter ihnen auch Taliban und radikale Islamisten befinden sollen. Repatriierungspläne sind deshalb nicht neu. Aber jetzt greift die Regierung mit der Beschuldigung, die Afghan*innen seien für eine Reihe von Terroranschlägen in Pakistan in der jüngsten Zeit verantwortlich, hart durch. Die Regierung Pakistans glaubt, mit der Vertreibungsaktion für die für 2024 angesetzte Neuwahl punkten zu können. So geraten auch die Afghan*innen, die Dokumente besitzen, unter Druck. Da viele der Vertriebenen nicht in Afghanistan bleiben wollen, ist ihre weitere Flucht vorprogrammiert.
Manzoor Ali, 17. November 2023
A crackdown on undocumented migrants is forcing thousands back to uncertain fates in Afghanistan, and ratcheting up tensions between Pakistan and the Afghan Taliban
Manzoor Ali, Pakistan brings down the axe on Afghan migrants. In: Himalmag, November 17, 2023.
Heela Najibullah, 6. November 2023
Ein Peoples Dispatch-Video zeigt im Rahmen eines Interviews mit Heela Nahjibullah dramatische Bilder der Vertreibung. Die Tochter des früheren afghanischen Premierministers Mohammed Nahjibullah ordnet die Asylsuche der Afghan*innen in den globalen Migrationskontext und die Restriktionen und Abschiebepraktiken der EU-Staaten ein. So werden afghanische Geflüchtete schon seit der Zeit der sowjetischen Besatzung Afghanistans als Verhandlungsmasse für verschiedene politische und ökonomische Zwecke instrumentalisiert. Durch die Entscheidung der pakistanischen Regierung verlieren sie einen Zufluchtsort. Gezwungen, Hab und Gut schnell unter Wert zu verkaufen, sind Armut, extreme Prekarität, Krankheit und Rechtlosigkeit in Afghanistan absehbar.
Heela Najibullah,Afghan Migrants Forced to Flee Pakistan. In: Peoples Dispatch, November 6, 2023
Sanaa Alimia, 22. November 2023
Die Politikwissenschaftlerin Sanaa Alimia geht in diesem Podcast-Interview auf die Migrations- und Fluchtgeschichte von Afghan*innen in Pakistan ein. Der Hintergrund ist, dass Pakistan die UN-Flüchtlingskonvention niemals unterzeichnet hat. Die derzeitigen Deportationen wurden von langer Hand vorbereitet und haben eine zwei Jahrzehnte lange Vorgeschichte von Überwachung, Schikanen und racial profiling. Abschiebungen versuchten Afghan*innen früher mit Bestechungen zu entgehen oder aber sie versteckten sich in ihren Häusern in den Städten. Trotz allem richteten sich die Geflüchteten ein, bauten Nachbarschaftshilfe und eigene Netzwerke für den Handel auf, entwickelten neue Anbautechniken auf dem Land und eigene Stadtviertel in Peshawar und Karachi. Die Regierung betreibt heute ein Verwirrspiel an Anordnungen für die Polizei, die - ganz in kolonialer Kontinuität - zunehmend willkürlich und mit großer Härte vorgeht. Sie schikaniert und deportiert keineswegs nur undokumentierte Afghan*innen, sondern macht wenig Unterschiede bezüglich des legalen Status. Auch Pashtunen, die die pakistanische Staatsbürgerschaft haben, sind von Gewalt und Willkürmaßnahmen betroffen.
Sanaa Alimia, The precarity of Afghan migrants in Pakistan (Podcast und Transcript). In: himalmag, November 22, 2023
Abdul Khaliq, 18. November 2023
In Pakistan findet gerade eine massive Privatisierungswelle statt. Der IMF macht massiven Druck auf das hochverschuldete Pakistan, Staatsunternehmen und öffentliche Einrichtungen zu privatisieren oder zu zwingen, mit privaten Unternehmen zu kooperieren (Public Private Partnership). Zunächst werden die National Highway Authority (NHA), die Pakistan National Shipping Corporation (PNSC), die Pakistan Broadcasting Corporation (PBC) und die Pakistan Post privatisiert.
Abdul Khaliq, New wave of IMF-Imposed Privatisation in Pakistan. In: CADTM, November 18, 2023
Maryam Missal, 17. Oktober 2023 / Qaiser Sherazi, 16. Oktober 2023
Im Oktober 2023 hatte die Ankündigung, dass mehr als 11.000 Schulen privatisiert und damit Kürzungen der Renten und Urlaubsgelder einhergehen würden, zu Protesten von Lehrer*innen geführt. Im Punjab verlangen Lehrer*innen-Assoziationen, dass die Regierung die Entscheidung zurücknimmt, 1.000 öffentliche Schulen an die private Organisation Muslim Hands Pakistan zu übergeben. Daraufhin suspendierte die Regierung streikende Lehrer*innen vom Dienst, auch wurden Lehrer*innen verhaftet.
Maryam Missal, Why Are Teachers Protesting? Auf: voicepak.net, October 17, 20
Qaiser Sherazi,Protesting educators suspended. In: The Express Tribune, October 16, 2023
Usman Khan, 17. November 2023
Da als nächstes die Privatisierung der Fluggesellschaft Pakistan International Airlines (PIA) ansteht und dort auch mit Protesten zu rechnen ist, hat das Kabinett ein Verbot von gewerkschaftlichen Aktionen und Streiks für die Angestellten der Fluglinie verhängt.
Usman Khan, Govt enacts Compulsory Service Act to avert protests in PIA privatisation, auf: SamaaTV, November 17, 2023
Ahmed Abbas, 22. Juni 2022
Autoritarismus: Entsprechend dem allgemeinen Trend in der Region hat auch Pakistan die rechtlichen Mittel zur Beschränkung von Meinungsfreiheit verschärft. Die neuen Regeln für soziale Medien zur „Beseitigung und Blockierung nicht rechtmäßiger online-Inhalte“ (Removal and Blocking of Unlawful Online Content (Procedure, Oversight and Safeguards) Rules 2021’, RBUOC Rules), sind so strikt und vage, dass selbst Social Media-Konzerne dagegen protestieren. Ihr Interesse daran, ihr Geschäftsmodell gegen allzu starke Eingriffe zu verteidigen, trifft sich punktuell mit der Verteidigung von allgemeinen Rechten auf Lebensgrundlagen, Freiheit des Handels und der Berufsausübung, die in den Artikeln 9 und 18 der pakistanischen Verfassung garantiert sind. Seit der Verabschiedung der RBUOC-Regeln schwanken die Meinungen höchster Gerichte zur freien Meinungsäußerung im Internet zwischen den gegensätzlichen Polen.
Ahmed Abbas, Pakistan tightens restrictions on social media giants. In: International Bar Association, June 22, 2022
November 2022
Ayyaz Mallick, 10. November 2022
Der abgesetzte pakistanische Regierungsschef Imran Khan versucht nach dem gescheiterten Attentat auf ihn weiterhin, die Macht wiederzuerlangen. Da das populistische Projekt Khans gescheitert ist, die traditionellen Parteien diskreditiert sind und sich im Militär Spaltungen auftun, begibt sich das Land in gefährliche gesellschaftspolitische Verwerfungen. Wegen ihrer politischen Querelen und des Machtgerangels versagen die politischen Eliten auf ganzer Linie und öffnen Räume für gewaltförmige Übergänge.
Ayyaz Mallick, After Imran Khan’s Ouster, Pakistan Is Going Through an Unprecedented Political Crisis. Jacobin, October 11, 2022. Deutsche Übersetzung
Tariq Ali, 10. November 2022
Nach dem Attentat auf den früheren Premierminister Imran Khan stellt der Autor diesen Mordversuch in die unrühmliche Geschichte von Attentaten und Morden an führenden Politiker*innen in Pakistan seit den 1950er Jahren. Diese Gewalt war schon immer systemischer Teil des brutalen Kampfes zwischen politischen Machtblöcken, wenn es um Regierungsposten und wirtschaftliche Bereicherung ging.
Tariq Ali, Assassination Time Again. New Left Review, November 10, 2022
Bharat Dogra, 06. November 2022
Nach der furchtbaren Überschwemmung brauchen große Teile der Bevölkerung und der Regionen dringend Nothilfe. Doch seit dem Attentat auf den früheren Premierminister Imran Khan, den nachfolgenden Protesten, Vorwürfen der beiden führenden Parteien gegeneinander und Spekulationen über die Rolle des Militärs ist die politische Klasse unfähig, Rehabilitations- und Unterstützungsmaßnahmen in den Überschwemmungsgebieten zu leisten. Regierungs- und Infrastrukturen müssten von Grund auf reformiert werden, um das politische Versagen und Korruption zu überwinden.
Bharat Dogra, Pakistan’s Political Turmoil Can Hinder Recovery from Serious Disasters. Countercurrents, November 6, 2022
Hassaan Ahmed, 10. Februar 2022
Soziale Bewegungen und Proteste: Der frühere Machthaber Pakistans, General Zia-ul-Haq, verbot im Februar 1984 alle studentischen Organisationen. Bis heute lähmt dieses Verbot ihre politische Arbeit ganz erheblich. Gegen das Verbot demonstrierten Studierende, Menschenrechtsaktivist:innen, Rechtsanwält:innen und Gewerkschaftsmitglieder in Lahore am Jahrestag des Verbots im Februar 2022 und forderten eine De-Militarisierung der Universitäten Pakistans.
Hassaan Ahmed, Pakistan: Students stage sit-in on 38th anniversary of student union ban. In: Minute Mirror, February 10, 2022. Deutsche Übersetzung