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Landnahme - Die neuen Pachoms

von Uwe Hoering, Januar 2011

Die Novelle “Wie viel Erde braucht der Mensch?” des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi ist eine Parabel über menschliche Gier: Bauer Pachom vereinbart mit Landbesitzern in Baschkirien, einem fruchtbaren Hochplateau im östlichen Russland, dass er so viel Land erhält, wie er an einem Tag umrunden kann. In seiner Gier schlägt er seinen Kreis immer weiter und größer. Als er am Abend an den Ausgangspunkt zurück kommt, bricht er erschöpft zusammen und stirbt. So braucht er am Ende nur zwei Quadratmeter Land für sein Grab.

 

Die modernen Pachoms

Heute heißen die Pachoms Daewoo, Sun Biofuels, Al-Quadra Holding oder Cru Investment Management. Aber auch Regierungen, zum Beispiel von Indien, von Golfstaaten, von China oder Libyen, sind bestrebt, Unternehmen aus ihren Ländern bei Agrarinvestitionen im Ausland hilfreich zur Seite zu stehen. Als Folge davon werden riesige Ländereien in Afrika, Lateinamerika, Asien oder Osteuropa an in- und ausländische private Unternehmen verkauft oder verpachtet. Häufig handelt es sich dabei um Gebiete, die gemeinschaftlich genutzt werden für die Versorgung der einheimischen Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln oder Fleisch und Fisch. Stattdessen wollen die meisten Investoren dort Nahrungsmittel für den Export anbauen oder Viehfutter für die industriellen Mastfabriken, Agrartreibstoffe für Autos in den reicheren Ländern Europas oder Asiens.

Einer der ersten Fälle, der weltweit Schlagzeilen machte, war der Versuch des koreanischen Konzerns Daewoo, in Madagaskar 1,3 Millionen Hektar Land zu pachten, die Hälfte der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Darauf sollte Mais angebaut werden, um Zuhause in Südkorea das Vieh zu füttern.

Ein weiteres Beispiel ist Sierra Leone, nach einem langen und blutigen Bürgerkrieg eines der ärmsten Länder der Welt. Das Schweizer Unternehmen Addax Bioenergy pachtete im Dezember 2009 mehr als 20.000 Hektar Land in Norden des Landes, um dort Zuckerrohr und Cassava anzubauen. Cassava ist in Sierra Leone das wichtigste Grundnahrungsmittel, nach Reis. Aber Addax beabsichtigt nicht, die Ernährungssicherheit des Landes zu verbessern, sondern will Cassava zu Treibstoff verarbeiten und nach Europa exportieren, ebenso wie Zuckerrohr. Und das ist bei weitem nicht der einzige Fall von Land grabbing. Allein in Sierra Leone werden Pachtverträge für annähernd 1,5 Millionen Hektar Land verhandelt. Das ist fast ein Drittel der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche.

 

Falsche Versprechungen

Während in Tolstois Novelle die Bewohner von Baschkirien genügend Land haben und selbst darüber entscheiden können, sind es heute in den meisten Fällen Regierungen oder lokale Autoritäten, die über das Land verfügen

und die Konzessionen vergeben. Die ländliche Bevölkerung, die diese Gebiete vielfältig nutzt, wird dabei selten um Rat gefragt, geschweige denn um Zustimmung.

Anders als Tolstois Baschkirien gibt es zudem in den meisten Ländern kaum Land, das nicht genutzt würde. Selbst in den abgelegensten Regionen gibt es Kleinbauern, die versuchen, von einem Stückchen Land zu leben, nomadische Viehhalter, deren Herden scheinbar menschenleere Savannen als Weidegründe nutzen, oder Wälder, in denen Frauen aus den Dörfern Feuerholz, Futter, Kräuter, Heilpflanzen und Früchte sammeln. Wenn die modernen Pachoms mit ihren großen Stiefeln kommen, bedeutet das für diese Bevölkerungsgruppen, dass ihnen der Zugang zu Land, das sie oft seit Generationen nutzen, versperrt wird. Damit verlieren sie ihre Lebensgrundlagen.

So trafen die Mitglieder des Kirchenrates von Sierra Leone denn auch auf eine Gemeinschaft, die sich betrogen fühlt, als sie Lungi besuchten, eins der Dörfer, die Land an Addax Bioenergy vergeben hatten. Addax hatte kurzerhand auch die Feuchtgebiete übernommen, die am besten geeignet sind, um Nahrungsmittel anzubauen. Zwar zahlte das Unternehmen dem Dorf dafür eine kleine Entschädigung, doch die lag weit unter dem Wert der Erzeugnisse, die die Menschen auf diesem Land hätten anbauen können. Außerdem nutzte Addax nicht nur das Land. Wasser wird aus dem Rokel-Fluss auf die Plantagen umgeleitet und fließt als Giftbrühe, belastet mit Unkrautvernichtungsmitteln und Kunstdünger, zurück. Frauen berichteten, dass das Wasser nicht mehr zum Trinken geeignet sei.

Wie in Lungi bekommt die lokale Bevölkerung wenig Gegenleistungen für den Verlust von Land und Wasser. Entschädigungen sind oft unzureichend oder werden überhaupt nicht gezahlt. Den Löwenanteil der Pacht oder des Kaufpreises stecken Regierungen und lokale Behörden oder Dorfchefs in die Tasche, die Landnutzer, die vielfach keine gesicherten Besitztitel haben, erhalten kaum etwas davon. Erfahrungen zeigen außerdem, dass große Plantagen für Zuckerrohr, Ölpalmen oder Soja, die mit den neuen Besitzern Einzug halten, nur wenig Beschäftigungsmöglichkeiten für die lokale Bevölkerung bieten. Die Löhne sind niedrig und die Arbeitsbedingungen miserabel. Und selbst wenn die vertriebenen Menschen bereit sind, sich in anderen Regionen Land zu suchen und umzusiedeln, ist es wie in der Geschichte vom Hasen und dem Igel: Meist sind die neuen Pachoms schon vor ihnen dort.

 

Land grabbing

Seit 2008 gibt es zahllose Berichte über derartiges Land grabbing. Wie in Tolstois Novelle scheint die Gier der Unternehmen nach Land unersättlich. Die Anzahl solcher Geschäfte und die Landflächen, um die es dabei geht, ist sprunghaft gestiegen. Aber weil die Beteiligten meist versuchen, diese Abmachungen so weit wie möglich geheim zu halten, gibt es kaum verlässliche Angaben über das wirkliche Ausmaß. Die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) schätzt, dass in den vergangenen drei Jahren allein in Afrika südlich der Sahara ausländische Akteure 20 Millionen Hektar Land übernommen haben, die Weltbank berichtet, dass im Jahr 2009 Verhandlungen und Verträge über 45 Millionen Hektar Land geführt beziehungsweise abgeschlossen wurden.

In vielen Ländern, die jetzt zum Zielgebiet ausländischer Investoren werden, kann die einheimische Landwirtschaft die Bevölkerung nicht ernähren. Daher benötigen sie Investitionen. Doch die neuen Pachoms tragen kaum zur Ernährungssicherheit und der ländlichen Entwicklung bei oder bringen Beschäftigung und Einkommen. Im Gegenteil: Der Anbau von Energiepflanzen geht oft mit der großflächigen Abholzung von Wäldern einher, wodurch natürliche Ressourcen und Umweltsysteme zerstört werden. Die Treibstoffversorgung für Autos verhindert, dass Kleinbauern ihre Nahrungsmittelversorgung sicher stellen können. Die Getreidemenge, die benötigt wird, um den Tank eines Geländewagens einmal mit Äthanol zu füllen, würde ausreichen, um eine Person ein Jahr lang zu ernähren. Außerdem sind viele Energiepflanzen „durstig“, ihr Anbau und ihre Verarbeitung zu Treibstoff beeinträchtigt daher die Wasserversorgung für den Nahrungsmittelanbau.

Das gestiegene Interesse von Regierungen und Investoren, großflächig Agrarland zu kaufen oder zu pachten, hat teils einen aktuellen Anstoß durch die Finanz-, Wirtschafts- und Klimakrise. Der Preisanstieg für Grundnahrungsmittel wie Reis und Weizen vor drei Jahren und die zunehmenden, unkalkulierbaren Preisschwankungen auf dem Weltmarkt sind darauf zurückzuführen, dass Nahrung ins Blickfeld von Finanzspekulanten geraten ist, die auf zukünftige Versorgungsengpässe wetten. Gleichzeitig fördern Regierungen in Schwellenländern mit wachsenden Ansprüchen seitens der Bevölkerung wie China, Korea, Indien oder Libyen, die Nahrung und Futter in großen Mengen importieren müssen, im Namen der eigenen „Ernährungssicherheit“ das Off shore farming. Drittens treibt die gestiegene Nachfrage nach Agrartreibstoffen als angebliche klimafreundliche Alternative zu teurem Erdöl das Land grabbing für Energiepflanzen wie Mais, Soja, Zuckerrohr, Jatropha oder Ölpalmen voran. Es ist also eine unheilige, mächtige Allianz aus Regierungen, Investmentfonds und Banken, Agrar- und Energiekonzernen, die die Lebensbedingungen von Millionen bäuerlichen Familien bedroht.

Gleichzeitig verstärken sich dadurch aber auch langfristige Entwicklungstendenzen. Fruchtbares Land wird immer knapper, weil es von ausufernden Städten, großen Infrastrukturprojekten wie Staudämmen oder zerstörerischen Bergbauprojekten verschlungen wird oder weil die industrielle Landwirtschaft mehr und mehr Böden schädigt. Investoren erwarten daher, dass sowohl die Preise für Agrarprodukte als auch die Bodenpreise langfristig steigen werden. Deshalb greifen sie sich das Land auch nicht nur, um mit Nahrungsmitteln oder Rohstoffen Gewinn zu machen, sondern als Mittel der Spekulation.

 

Wasser grabbing

Ein weiteres Problem, das in der eingangs erwähnten Novelle von Tolstoi nicht vorkommt: Wer das Land kontrolliert, kontrolliert auch die Wasserressourcen. Flüsse werden auf Felder und Plantagen umgeleitet, was Menschen und Wirtschaft flussabwärts beeinträchtigt. Immer stärkere Motorpumpen führen dazu, dass der Grundwasserspiegel sinkt und Brunnen in weiter Umgebung austrocknen. Ebenso wie fruchtbarer Boden wird auch sauberes Wasser aufgrund von Überausbeutung und Verschmutzung immer knapper. Die neuen Landherren können das Wasser ganzer Regionen stehlen. Und sie verschmutzen es rücksichtslos mit Agrochemikalien oder Abwässern von Tier- und Zuckerrohrfabriken.

So wurden beispielsweise 2005 in den Gemeinden Ocós und Coatepeque in Guatemala Dämme gebaut, um Bananen- und Ölpalmenplantagen vor Überschwemmungen zu schützen. Die Folge war, dass das Land und die Ernten der lokalen Bevölkerung ständig überflutet wurden. In Coatepeque führte die Bewässerung für die ausgedehnten Ölpalmenplantagen dazu, dass Wasser für die bäuerliche Landwirtschaft knapp wurde. Zahlreiche Gemeinden berichteten, dass mehrere Brunnen bereits ausgetrocknet seien und es zunehmend schwierig wird, in der Trockenzeit sauberes Wasser zu bekommen. Zudem gelangten in beiden Regionen giftige Stoffe und Abwässer in die Flüsse, was für die Bevölkerung schwerwiegende Gesundheitsrisiken mit sich brachte.

Überhaupt ist die Suche nach Wasser eine weitere wichtige Triebkraft für den neuen Investitionsschwung. Rund 70 Prozent des Wassers, das die Menschen benutzen, fließt in die Landwirtschaft, in vielen Entwicklungsländern manchmal sogar noch mehr. Bewässerung ist von immer größerer Bedeutung für die Versorgung der Welt mit Nahrungsmitteln und Agrarrohstoffen. Zwischen 1962 und 1998 wuchs die bewässerte landwirtschaftliche Nutzfläche um etwa 1,6 Prozent im Jahr, insgesamt um 100 Millionen Hektar. Während Regionen im Nahen Osten, in Indien oder China längst die Grenzen einer nachhaltigen Wassernutzung überschritten haben, nutzt beispielsweise Afrika südlich der Sahara gegenwärtig nur zwei Prozent seiner Wasserressourcen für die Bewässerung. Länder wie Mosambik oder Sudan haben sowohl Land als auch Wasser und stehen daher beide im Zentrum des Interesses von Investoren. Experten weisen zudem darauf hin, dass sich in Zukunft die Wasserprobleme verschärfen werden, weil sie eng verknüpft sind mit den Auswirkungen des Klimawandels.

So überließ in Mali die Regierung dem libyschen Unternehmen Malibya in der Region Macina nicht nur 100.000 Hektar Land, um Hochertragsreis für den Export nach Libyen anzubauen. Zusätzlich gewährte sie dem Unternehmen vorrangigen Zugang zu Wasser in der Trockenzeit. Für die lokalen Produzenten in der Region, für die der Niger-Fluss die wichtigste Quelle für Bewässerung ist, bedeutet das weniger Wasser – und möglicherweise das wirtschaftliche Aus.

Das gleiche Bild in Ostafrika: Im Austausch für 40.000 Hektar Land am Tana-Fluss bot der arabische Golfstaat Katar der Regierung von Kenia einen Millionen-Kredit für den Bau eines neuen Tiefwasserhafens. Doch Flüsse und Feuchtgebiete wie das Delta des Tana-Flusses sind nicht nur wichtig für die Umwelt, für Fische und Pflanzen. Sie ermöglichen es auch der lokalen Bevölkerung, Nahrungsmittel und Cash crops wie Reis, Fisch oder Gemüse zu erzeugen. Und hier finden Viehhalter Wasser und Weiden für ihr Vieh, besonders in Trockenzeiten, wenn andere Quellen austrocknen.

Proteste ....

Weil nicht zu erwarten ist, dass die neuzeitlichen Pachoms wegen ihrer Gier tot umfallen werden, ist die große Frage, was gegen Land grabbing getan werden kann.

Eine Antwort ist der wachsende Widerstand, zum Beispiel in Mosambik. Dort zog sich 2009 das britische Unternehmen BioEnergy Africa nach heftigen Protesten aus einem Investitionsvorhaben zurück. Das Unternehmen wollte in dem südafrikanischen Land Zuckerrohrplantagen auf 30.000 Hektar anlegen. Dafür hatte es unter anderem von der Regierung die Zusage bekommen, für die Bewässerung bis zu 750 Millionen Kubikmeter Wasser vom Massingir-Staudamm in der Provinz Gaza zu bekommen, auf Kosten der lokalen Bevölkerung und ihres Nahrungsmittelanbaus. Neuere Informationen lassen vermuten, dass die Regierung das Vorhaben inzwischen ganz zu den Akten gelegt hat. Auch das Daewoo-Projekt in Madagaskar geriet ins Schlingern. Die Empörung darüber trug wesentlich zur Entstehung einer breiten Oppositionsbewegung gegen die Regierung und schließlich zu deren Sturz bei. Die neue Regierung legte das Abkommen auf Eis.

Solche Proteste erinnerten die Regierungen und Investoren daran, dass mit Land grabbing und Agrarinvestitionen nicht nur für die betroffene Bevölkerung hohe Risiken verbunden sind, sondern auch für sie selbst. Das gilt besonders in armen Ländern, in denen ein großer Teil der Bevölkerung unter Landmangel und unzureichender Ernährung zu leiden hat. Wenn dann die einheimische Bevölkerung hungert, während gleichzeitig Nahrungsmittel exportiert werden, kann das schnell zu Konflikten und Widerstand führen.

..... und Richtlinien

Um die negativen Folgen von Investitionen zu verringern und die Aussichten zu verbessern, dass sie zum Wohlergehen der Bevölkerung beitragen, gibt es eine Diskussion über Prinzipien und Richtlinien für “verantwortungsbewusste Investitionen”. Die Weltbank und eine Reihe von Regierungen von Industrieländern wie den USA und Japan haben sieben Prinzipien formuliert, die sicherstellen sollen, dass Agrarinvestitionen „die Rechte, Lebensbedingungen und Ressourcen schützen“. Das Komitee für Ernährungssicherheit (CFS), das bei der UN-Agrarorganisation FAO angesiedelt ist, ist ebenfalls dabei, „Freiwillige Leitlinien für eine verantwortungsbewusste Politik für die Nutzung von Land und anderen natürlichen Ressourcen“ zu erarbeiten. Viele notwendige Bestandteile solcher Verhaltensregelungen sind längst bekannt: eine Beteiligung der Betroffenen und der Parlamente, eine umfassende Information der Öffentlichkeit, die Anerkennung bestehender Nutzungsrechte an Land und Wasser und natürlich eine ausreichende Entschädigung, falls Menschen umgesiedelt werden. Diese Bestandteile hat zum Beispiel Olivier de Schutter, der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, in seinen Stellungnahmen zum Land grabbing wiederholt klar herausgestellt.

Viele nichtstaatliche Organisationen und Bauernverbände wie das Kleinbauern-Netzwerk La Via Campesina halten allerdings die Weltbank-Richtlinien für ungeeignet, die Interessen der ländlichen Bevölkerung wirklich zu schützen. Stattdessen beteiligen sie sich an der Ausarbeitung der FAO-Richtlinien, in der Hoffnung, diese positiv beeinflussen zu können. Aber auch die haben das Manko, dass sie für Investoren nicht bindend sein werden und ihre Umsetzung daher weitgehend vom guten Willen abhängen wird. So wird es weiterhin an den Betroffenen und zivilgesellschaftlichen Organisationen sein, sich gegen die Landnahme zur Wehr zu setzen. Richtlinien und freiwillige Verhaltensregeln können dabei helfen, diesen Kampf aber nicht ersetzen.

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Dieser Beitrag basiert auf dem Text “Land and Water grabbing“ für die Ecumenical Advocacy Alliance, Genf, Redaktion: Angeline Munzara (Download Deutsch, pdf-Datei 2,2 MB; Download Englisch, pdf-Datei 2,8 MB)