Redaktionsnetzwerk Südasien, 05.09.2023
Die indischen Sicherheitsbehörden haben im August Razzien gegen Dalit- und Adivasi-Gemeinschaften in verschiedenen geplanten Bergbaugebieten im Süden Odishas durchgeführt und Aktivist*innen unter anderem unter dem drakonischen Gesetz zur Verhinderung rechtswidriger Aktivitäten (UAPA) verhaftet. Der bekannte Sozial- und Umweltaktivist Prafulla Samantara soll am 29. August aus seinem Hotelzimmer entführt worden sein. Hintergrund der Repressionswelle dürfte auch das am 26. Juli 2023 vom indischen Parlament verabschiedete Forest (Conservation) Amendment Bill 2023 sein. Die Änderungen stellen einen direkten Verstoß gegen die Rechte der Adivasi, die von den Wäldern leben, dar, die ihnen im Rahmen des Forest Rights Act von 2006 gewährt wurden. Danach kann eine Umwidmung von Waldland nur mit Genehmigung der lokalen Gemeinschaften durch ihre Dorfgemeinderäte erfolgen. Diese Bedingung entfällt nun.
Himanshi Dahiya: Inside Odisha's Crackdown on Adivasis: Bauxite Mining, UAPA, and Forest Act, in: The Quint, September 5, 2023
Hunderte bekannter Aktivist*innen, Bürger*innen- und Volksorganisationen aus ganz Indien äußerten in einem offenen Brief an den Ministerpräsidenten von Odisha ihre Empörung über die UAPA-Verfahren gegen Adivasi und Aktivist*innen.
National Alliance of People's Movement/NAPM: UAPA cases on Niyamgiri adivasis und activists invites national outrage, in: Countercurrents, August 24, 2023
National Alliance of People’s Movements (NAPM), Press release, 13.8.2023
Am 12.August 2023 wurden die Gebäude der gandhianischen Organisation Sarva Seva Samiti nahe der nordindischen Pilgerstadt Varanasi in einer brutalen Aktion zerstört. Den Bulldozern fiel auch die sechs Jahrzehnte alte Bibliothek zum Opfer, die 10.000 Bücher zum Gedankengut von Mahatma Gandhi, Acharya Binoba und Jayprakash Narayan enthielt. Trotz einer großen Protestveranstaltung am Vortag gegen die repressive BJP-Politik in den Bundesstaaten Uttar Pradesh und Haryana und einer ausstehenden Entscheidung des zuständigen Gerichts schickte die Regierung von Uttar Pradesh die Bulldozer, um diese wichtige Quelle für die politische Geschichte Indiens platt zu machen.
In: Countercurrents, August 2023
Himanshu Jha, 12.08.2023
Autoritarismus: In der zweiten August-Woche verabschiedete das indische Parlament ein Gesetz, dass dem Namen nach dem Datenschutz dienen soll. Vordergründig soll mit dem Digital Personal Data Protection Bill der Datenmissbrauch durch große Hightech-Unternehmen unterbunden werden. Datenschutz- und Menschenrechtsorganisationen befürchten allerdings, dass dadurch der Schutz der Privatsphäre und das Recht auf Information ausgehöhlt werden. Das 2005 verabschiedete bahnbrechende Right to Information-Gesetz (RTI Act) habe mit einigem Erfolg die Un-Kultur der Intransparenz und Korruption von Behörden und mächtigen Interessengruppen durchbrochen, schreibt Himanshu Jha, doch dieser Fortschritt und damit die Demokratie seien jetzt in Gefahr. Bereits 2021 setzte die Regierung Modi weitreichende Regulierungen durch, um soziale Medien und digitale Plattformen direkt unter ihre Kontrolle zubringen, was nach Auffassung von Kritikern zu einer Online-Zensur in Indien führen kann.
In: The Diplomat, August 12, 2023
Siehe dazu auch das Dossier: Digital Security threatens Digital Rights
National Alliance of People’s Movements, Press release, 25.07.2023
Eine geplante Ergänzung zum nationalen Waldschutzgesetz (Forest Right Act, 2006) ruft in 16 indischen Bundesstaaten heftige Proteste von Klima- und Waldaktivist*innen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Wissenschaftler*innen hervor. Obwohl in indischen Städten die Temperaturen ins Unerträgliche steigen, sollen durch das neue Gesetz große Waldflächen freigegeben werden, um „Entwicklungs- und Sicherheitsprojekte von nationaler Bedeutung“ durchzuführen. Das betrifft insbesondere Regionen, in denen Adivasi leben, die Bergkette der Western Ghats (einschließlich Goa) und Gebiete im Nordosten, deren Reichtum an biologischer Vielfalt und deren Bedeutung als wichtige CO2-Senken dadurch bedroht sind.
National Alliance of People’s Movements, Press release, July 25, 2023
Arbeit und Arbeitskämpfe: Die Zeitschrift Azaad beschäftigt sich im aktuellen Heft (Juli 2023) mit der Plattform-(Gig)-Ökonomie in Indien. Deren schneller Aufstieg seit der Finanzkrise 2008 und weiter beschleunigt durch die Covid-Pandemie bietet derzeit schätzungsweise acht Millionen Menschen, vorrangig Männern, Beschäftigung im informellen Sektor, von der Essensauslieferung über die Textproduktion bis zur Software-Entwicklung. Dem liegt ein ebenso breites Spektrum von algorithmengesteuerter Ausbeutung und digitalisierter Geringentlohnung zugrunde. Die Plattformen gelten als demokratisierte Ökonomie mit niedrigschwelligem Zugang und bieten vielen jungen Leute, die das Land und die Landwirtschaft verlassen, Arbeitsmöglichkeiten. Ihre Beschäftigung (formal gelten sie als Selbstständige) findet in einer Grauzone zwischen formellem und informellem Sektor statt. Das bedeutet Dumpinglöhne, digitale Überwachung, Vereinzelung, Flexibilisierung und Unsichtbarkeit, aber keine soziale Sicherheit. Für Frauen gibt es zusätzliche Probleme wie kein Zugang zu sanitären Anlagen, kein rechtlicher Schutz gegen sexuelle Gewalt und geringere Bezahlung als Männer.
Azaad Awasz, Volume VII, Issue 1, Juli 2023
Seit Anfang Mai tragen verschiedene Ethnien im nordöstlichen indischen Bundesstaat Manipur ihre Konflikte mit brutaler Gewalt aus. Anlass war, dass die Bevölkerungsmehrheit der Meitei, vorwiegend in den Tälern lebende Hindus, ebenso wie die beiden Ethnien der Kuki und Naga, die in den Bergen wohnen und mehrheitlich Christen sind, in das indische Quotensystem (‚Reservation system’) aufgenommen werden wollen. Das würde ihnen feste Anteile bei Regierungsjobs, im Parlament und im Bildungssystem sichern. Mindestens 160 Personen haben bisher ihr Leben verloren, 400 Kirchen sollen zerstört und 50.000 Christinnen und Christen vertrieben worden sein. Die Regierung in Delhi schweigt zu den Ereignissen, hat aber tausende Soldaten in die Region geschickt. Inzwischen wird aber auch heftig gegen die eskalierende Gewalt protestiert, unter anderem von Frauen. Redaktionsnetzwerk Südostasien
Murali Krishnan, India: Manipur women rise against ethnic violence. 07.10.2023
Die folgenden beiden Artikel berichten, wie sexualisierte Gewalt systematisch als Waffe von den Konfliktparteien eingesetzt wird, was eine lange Geschichte in Indien hat:
Sangeeta Barooah Pisharoty, Manipur Video: What Connects 3 Kuki Women Stripped, Paraded Naked to Manorama and Bilkis Bano? DW, 21.07.2023
Tora Agarwala, Everyone should know what happened to us: Four Kuki women recount butal assaults they survived. In: scroll, 21.07.2023
Die Regierung hat eine Internet-Sperre für Manipur verhängt, vorgeblich um zu verhindern, das 'Fake News' verbreitet werden. Die beiden folgenden Artikel diskutieren diese Maßnahmen als Einschränkung der Informationsfreiheit, was mehr Schaden als Nutzen bringen würde:
John Brittas, Manipur Is Further Proof That Internet Shutdowns Do More Harm than Good. In: The Wire,14.07.2023
Srinivas Kodali, We Can’t Look Away From Internet Shutdowns in Manipur. In: scroll, 20.07.2023
Derweil äußern zivilgesellschaftliche Kreise, Frauenorganisationen und andere soziale Bewegungen zunehmend Kritik am ignoranten Verhalten der Regierung und protestieren gegen die unerträgliche sexuelle Gewalt in dem Konflikt:
Presseerklärung von Frauenorganisationen und besorgten Bürger*innen, In: Countercurrents, 21.07.2023
Offener Brief der National Alliance of People's Movements (NAPM) und anderer Organisationen an die indische Präsidentin, 22.07.2023
R.Raj Rao, 06.07.2023
Buchbesprechung von K. Vaishali, Homeless: Growing Up Lesbian and Dyslexic in India
Queer: K.Vaishali verwebt in ihrem Buch ihre Autobiographie als nicht-heterosexuelle Frau mit Fiktion und einem Rückblick auf LGBTIQ in der indischen Kulturproduktion und schafft damit eine Queer-Ästhetik. Seit 2018 LGBTIQ-Sexualitäten in Indien dekriminalisiert wurden, spielen nicht-heteronormative Identitäten in Literatur und Film wie auch im akademischen Bereich eine prominente Rolle. Doch lesbische und queere Literatur hatten schon immer mit vielen Vorurteilen zu kämpfen, seit 1942 die Urdu Schriftstellerin Ismat Chughtai in ihrer Erzählung „The Quilt“ zwei Frauen wie einen Elefanten unter einer Decke beschrieb. Viel auflagenstärker war dagegen schwule Literatur. Häufig wurden Lesben „kuriert“ und in eine heterosexuelle Beziehung geschleust (besser: gezwungen???). Eigene Erfahrungen von Vaishali korrespondieren mit der Literatur, z.B. das Motiv der Mutter, die die lesbische Tochter ablehnt und straft. Für Vaishali war das Schreiben Selbstvergewisserung und Therapie an der Schnittstelle zwischen Sexualität, Kaste und körperlicher Einschränkung.
K. Vaishali, 2023. Homeless: Growing Up Lesbian and Dyslexic in India, Simon & Schuster and Yoda Press
Rosamma Thomas, Juni 2023
Autoritarismus: Komik, Ironie und Satire spielten immer schon eine große Rolle bei der Gesellschaftskritik in Indien. Traditionelle und moderne Kunstformen verstanden es, den Menschen Mut zu machen und sich gegen staatliche Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung zu wehren. In schwierigeren Zeiten stiften Künstler*innen Humor und Reflexion. Unter der hindunationalistischen Regierung von Premierminister Narendra Modi nehmen Angriffe und Hasskampagnen gegen Oppositionelle, kritische Medienarbeiter*innen, Stand-up-Comedians und Karikaturist*innen zu. Jörn Große-Rövekamp und Jean Donauer
In: iz3w 396, Mai / Juni 2023, 37-39. Der Originaltext vom 22. Juni 2022 wurde aus dem Englischen übersetzt von Jörn Große-Rövekamp.
Die Schriftstellerin und freiberufliche Journalistin Rosamma Thomas ist Teil des Projekts „Cultural Resistance in Times of Rising Authoritarianism in India: A Dossier“, das die Vielfalt kultureller Widerstandsformen in Indien gegen die autoritäre Wende aufzeigt. Bisher sind zehn Beitrage erschienen, darunter über eine Folk Rock-Band im ostindischen Manipur, über Kulturgruppen in Maharashtra, die gegen das Kastensystem aktiv sind, und die vielfältige Protestkultur der monatelangen Blockade der Hauptstadt Delhi durch Bauern vor zwei Jahren. , die digital unter bit.ly/3LmdcND zu finden sind.
Feminismen: Seit Januar 2023 protestieren mehrere indische Ringer*innen, die olympische Medaillen gewonnen haben, gegen die sexuelle Gewalt, die ihnen jahrelang von dem Präsidenten des indischen Ringerverbands Brijbhushan Sharan Singh angetan wurde. Singh ist auch Parlamentsabgeordneter der BJP. Während Premierminister Modi zu den Vorwürfen schweigt, erfahren die Ringer*innen Solidarität von unterschiedlichen Seiten. So von Frauen, die die Ringerinnen als Pionierinnen einer selbstständigen Lebensweise, die ihren Erfolg vor allem sich selbst verdanken, feiern, und von Aktivist*innen aus der Bäuer*innenbewegung von 2020, weil die Polizei sich wieder einmal weigert, Anzeigen aufzunehmen.
Why the wrestlers’ protest matters so much to the sisterhood of working women
von Shrayana Bhattacharya, in: Times of India, June 3, 2023. In: Times of India
Indian farmers break down barricades to join protesting wrestlers
Al Jazeera, May 8, 2023
Human Rights Watch, 22.12.2022
Autoritarismus: Der Entwurf für ein neues Datenschutzgesetz (Digital Personal Data Protection Bill) ist der jüngste Versuch der von der Bharatiya Janata Party (BJP) geführten Zentralregierung, Indiens erstes Gesetz zum Schutz persönlicher Daten zu beschließen. Ein früherer Vorstoß, der im Dezember 2019 im Parlament eingebracht worden war, wurde im August 2022 fallengelassen. Die Bedenken von Parlamentarier*innen der Opposition, Technologieunternehmen und Advocacy-Gruppen gegen die frühere Gesetzesvorlage werden vom jetzt vorgelegten Entwurf nicht berücksichtigt. Die Regierung sollte daher den Vorschlag überarbeiten, um den Schutz der Privatsphäre vor einer unkontrollierten staatlichen Überwachung sicher zu stellen, erklärte Human Rights Watch, eine öffentliche Beratung durchführen und die Vorschläge zivilgesellschaftlicher Gruppen und Experten für digitale Rechte einarbeiten.
HRW, India: Data Protection Bill Fosters State Surveillance. Draft Law Fails to Protect Privacy, Rights of Children
B.S.Arun, 28.03.2023
Autoritarismus: Die BJP-Regierung des südindischen Bundesstaats Karnataka hat die Reservierungsquote für Muslime aufgehoben. Ihr bisheriger Anteil von vier Prozent wurde zwei großen Kastengruppen in Karnataka, den Lingayats und Vokkaligas, zugeschlagen, während sich Muslime jetzt die Reservierungsquote von zehn Prozent für die wirtschaftlich schwächsten Gruppen, denen sie zugeordnet wurden, teilen müssen. Musleme sind eindeutig die Verlierer dieser Maßnahme. Diese neue Quotenpolitik im Vorfeld der nächsten Wahlen in Karnataka ist ein Beispiel dafür, wie die Anti-Islamisierung Schritt für Schritt politisch umgesetzt wird und Hindu-Gruppen von der BJP umworben werden.
In: The Wire, March 28, 2023
Pushpa Sundar, 7.3.2023
Autoritarismus: In der Verfassung ist verankert, dass Indien ein säkularer Staat ist. Doch zunehmend setzten BJP-Regierungen Haushaltsmittel für die Förderung religiöser Einrichtungen ein, wie jüngst die Regierung des Bundesstaates Karnataka. Das wirft Fragen nach der Vereinbarkeit mit der Verfassung, der fehlenden Gleichbehandlung der unterschiedlichen Religionen und der Bekämpfung der Armut auf.
Siehe dazu auch: Irfan Engineer and Neha Dabhade, Bulldozers, Discriminatory Laws and Demonization of Minorities: Communal Violence 2022 – Part III, Center for Study of Society and Secularism, CSSS, 2022.
Dieser Bericht über "symbolische Gewalt" in Indien, der nachzeichnet, wie die rechte Hindu-Ideologie durch Finanzierung von Hindu Tempeln und Symbolen, Hassreden, sozialen und Wirtschaftsboycott und Umbenennung von Orten, deren Name die islamische Herkunft signalisiert, öffentliche Diskurse beeinflusst, ist der dritte Teil einer Serie 'Bulldozers, Discriminatory Laws and Demonization of Minorities: Communal Violence 2022'über unterschiedliche Formen von Gewalt gegen religiöse Gemeinschaften und soziale Minderheiten. Die beiden anderen Texte analysieren "direkte physische Gewalt" und "strukturelle Gewalt".
14.03.2023
Feminismen/Queer: Mehrere gleichgeschlechtliche Paare stellten eine Petition, dass der indische Staat ihre Ehe anerkennen sollte. Doch obwohl die Heirat gleichgeschlechtlicher Paare in Indien entkriminalisiert ist, verweigert die Regierung vor dem Obersten Gerichtshof die Legalisierung dieser Eheschließungen. Begründung: Diese Ehen würden dem indischen Konzept von Familie widersprechen, das zutiefst heterosexuell sei. Auch wenn homosexuelle Ehen in der Alltagsrealität bestehen, will der Staat sie nicht formal anerkennen. Wegen der bahnbrechenden Bedeutung für die Gesellschaft hat der Oberste Gerichtshof die Entscheidung jetzt an ein fünfköpfiges Gremium von Verfassungsrichtern verwiesen.
In: Times of India, March 14, 2023
Rokibuz Zaman, 07.03.2023
Autoritarismus: In Indiens größtem Auffanglager für "illegale Einwanderer*innen", in Matia in Assam, sind derzeit "Ausländer" sowie 300 Personen untergebracht, die im Rahmen des staatlichen Vorgehens gegen Kinderheirat festgenommen wurden. 69 Inhaftierte wurden von den Ausländergerichten Assams, quasi-richterlichen Gremien, die über Fragen der Staatsangehörigkeit in diesem Bundesstaat entscheiden, zu „illegalen Migrant*innen“ erklärt. Hintergrund ist das neue Staatsbürgerschaftsgesetz von 2019 (Citizenship Amendment Act) und das Nationale Bürger*innenregister, das die Aufgabe hat, eingewanderte Muslime als nicht-indische Bürger*innen auszusondern und abzuschieben. Auf Anordnung des Obersten Gerichtshofs wurden in Assam erstmals 2009 Haftanstalten für die Inhaftierung von als Ausländer deklarierten Personen errichtet. Die BJP-Regierung stellte 2018 erhebliche Geldmittel zur Verfügung und unterstützte den Bau eines großen Zentrums in Matia, in dem rund 3.000 Häftlinge untergebracht werden sollen. Die Reportage beleuchtet die Willkür der Inhaftierungen und die miserablen Haftbedingungen der in Matia eingesperrten Frauen, Männer und Kinder.
In: scroll.de, March 7, 2023
März 2023
Die indischen sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Gruppen, die dieses Statement vorgelegt haben, betrachten die G20, deren Vorsitz in diesem Jahr Indien hat, als exklusiven Club der Reichen und Mächtigen zur Stabilisierung neoliberaler Politiken und Rettung der globalen (Finanz-)Märkte. Das Modi-Regime benutzt diese dramatische Situation einer Mehrfachkrise, um sich nach innen vor den nächsten Wahlen als weltpolitischer Akteur zu profilieren und international das Image als größte Demokratie und größte Diversität der Welt aufzupolieren. Zum indischen Autoritarismus, der Verletzung von Menschenrechten, mangelnder Pressefreiheit, der rücksichtslosen Durchsetzung von großen Infrastrukturprojekten und wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten schweigt die G20. Arme und marginale Bevölkerungsgruppen haben keinerlei Einfluss auf die Themen und Entscheidungen der G20, aber kämpfen jenseits der Schönfärberei durch die indische Regierung weiter für demokratische, sozial und umweltgerechte Ökonomien und Gesellschaften.
Presse-Erklärung, in: Countercurrents, March 3, 2023
Global Voices, 16.03.2023
Autoritarismus: Rana Ayyub, Kolumnistin der Washington Post und eine der prominentesten unabhängigen Journalistinnen Indiens, war online täglich mit umfangreichen Drohungen, Belästigungen und Beschimpfungen konfrontiert. die von einer Armee von Trollen ausgehen.
Diese offen sexistische und mit Desinformationen gespickte Kampagne wird von „Lynchmobs“ getragen, die sich mit Indiens hindu-nationalistischer Regierungspartei identifizieren. Im Fall von Rana Ayyub bewegen sie sich an der Schnittstelle von muslim- und frauenfeindlicher Bigotterie, denn sie wurde wegen ihres muslimischen Glaubens attackiert und als "Dschihadistin" und "Terroristin" bezeichnet. Die Angriffe werden auch von regierungsnahen Boulevard-TV-Sendern und Propaganda-Websites geführt, die sich als Nachrichtenagenturen ausgeben und die kritische Berichterstattung von Rana Ayyub als Beweis für ausländische Einflussnahme und für ihre Illoyalität gegenüber Indien darstellen. Ihr Fall ist symptomatisch für die Verfolgung von Journalistinnen in Indien und der Region.
Online gender-based violence: A tool of digital authoritarianism in India. In: Global Voices, March 16, 2023
Siehe dazu auch die Studie des International Centre for Journalists (ICFJ), Rana Ayyub. Targeted online violence at the intersection of misogyny and islamophobia. February 14, 2023. Nach einer detaillierten Darstellung der Angriffe geht sie auch auf Hintergründe ein wie die Aushöhlung der Pressefreiheit in Indien unter der Regierung Modi und die Aufforderung von UN-Experten, Journalist*innen wie Rana Ayyub vor derartigen Angriffen zu schützen.
Redaktionsnetzwerk Südasien, 20. Februar 2023
Queer: Die Regierung lehnt es seit über fünf Jahren ab, den erfahrenen und offen über seine homosexuelle Orientierung sprechenden Juristen Saurath Kirpal als Richter am Delhi High Court zu bestellen, und setzt sich damit über eine entsprechende Empfehlung des Obersten Gerichtshofs hinweg. Die offizielle Begründung: Geheimdienstliche Bedenken gegen Kirpals Partner, den Schweizer Menschenrechtsaktivisten Nicholas German Bachmann. Zwar werden homosexuelle Ehen in Indien nicht anerkannt und Homosexualität gilt in Teilen der indischen Gesellschaft noch als großes Tabu, aber durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs in Neu-Delhi von 2018 wurden homosexuelle Beziehungen mittlerweile entkriminalisiert.
Quelle: Times of India, January 20, 2023
Feminismen:Trotz aller Versprechen zu Geschlechtergleichheit wartet das Gesetz zu einer Quotenregelung im Parlamentseit 26 Jahren auf seine Verabschiedung. 33 Prozent der Sitze sollen für Frauen reserviert werden. Fünf Mal scheiterte das Gesetz daran, dass keine zusätzliche Quotierung für Frauen aus unteren Kasten und gesellschaftlichen Minderheiten vorgesehen war. Doch daran führt kein Weg mehr vorbei.
Kanchana Yadav, in: Feminism in India, January 21, 2023
Kastengesellschaft: Trotz der Quotenregelungen für Adivasi und andere marginalisierte Kastengruppen, die Dalits, sind Spitzenpositionen in Forschung, Wissenschaften und Technologien immer noch von den privilegierten Kasten und Klassen besetzt. Die Studie liefert umfangreiches Zahlenmaterial dafür. So sind zwar auf Promotionsebene immerhin zehn Prozent Dalits, aber nur zwei Prozent Adivasi vertreten. Danach schrumpft die Diversität sozialer Herkunft in den wissenschaftlichen Eliteinstituten dramatisch: Weniger als ein Prozent aller Professor*innen sind Dalits oder Adivasi. Um das zu ändern, müssen Unterstützungsstrukturen im gesamten Bildungssystem für die benachteiligten Gruppen geschaffen werden, denn bislang besteht für sie keine Chancengleichheit.
Ankur Paliwal, in: Nature, January 11, 2023
Redaktionsnetzwerk Südasien, 17. Februar 2023
Mitte September vergangenen Jahres brach Rahul Gandhi, vorübergehend Präsident der Congress-Partei, zu einem langen Marsch (Yatra) von Kerala im Süden des Landes nach Kaschmir im Norden auf. Die Organisator*innen erklärten, diese Yatra, die an ähnliche Märsche von Mahatma Gandhi erinnern sollte, sei nicht parteipolitisch motiviert, sondern solle „Indien vereinen“ („Bharat Jodo“) und die Spaltung durch die hindu-fundamentalistische Politik überwinden. Sie hofften dabei, eine breite Unterstützung durch zivilgesellschaftliche Gruppen und säkulare politische Organisationen zu mobilisieren. Der Marsch endete nach 150 Tagen Ende Januar. Die folgenden Beiträge ziehen Bilanz: Shivasundar, ein Aktivist aus Karnataka, fasst einige Überlegungen und Erwartungen zu Beginn der Yatra zusammen, der Politikwissenschaftler Dhruv Janssen-Sanghavi fragt, wie sich Bestrebungen zu Einheit, Solidarität und Rechenschaftspflicht politisch umsetzen lassen, eine Reportage von Avani Bansal nimmt die Beteiligung von Frauen in den Blick. Sowie ein Appell von über 80 zivilgesellschaftlichen Organisationen, welche innovativen, grundlegenden Alternativen zum bestehenden politischen und wirtschaftlichen System die Yatra thematisieren müsste, um politisch relevant zu werden.
By Shivasundar, In: The Wire, September 12, 2022,
by Vikalp Sangam Core Group, December 7, 2022
By Avani Bansal, in The Wire, January 15, 2023.
By Dhruv Janssen-Sanghavi, In: The Wire, February 8, 2023
Suryashekhar Biswas / Sachi, Januar 2023
Arbeiter*innen der Indian Telecommunication Industries Ltd. (ITI) befinden sich seit dem 1. Dezember 2021 in Bangalore in einem Streik. Sie protestieren gegen ihre willkürliche Entlassung nach der Gründung einer Gewerkschaft und fordern ihre grundlegenden Rechte ein, wie die Gleichbehandlung von Arbeiter*innen aus marginalisierten Kasten und faire Löhne. Die Situation der Arbeiter*innen ist so prekär, weil sie Vertragsarbeiter*innen bzw. Leiharbeiter*innen sind.
Der Beitrag erschien am 4. Januar 2023 auf Countercurrents. Deutsche Übersetzung
Varsha Singh, 30.11.2022, The Third Pole
Soziale Bewegungen: 2023 jährt sich zum 50sten Mal der Beginn der Chipko-Bewegung in den Dörfern Uttarakhands. Damals inspirierte das Bäume-Umarmen der Dorffrauen den Umweltaktivismus in Indien und die Entwicklung theoretischer und praktischer Konzepte des Ökofeminismus. Heute zwingt der Klimawandel die Menschen in der Region, in der Indiens bekannteste Umweltbewegung begann, ihr Land zu verlassen. Die Erfolge von damals fallen den aktuellen Überschwemmungen zum Opfer.
In: The Third Pole, November 11, 2022. Deutsche Übersetzung
Weitere Texte zur Chipko-Bewegung und ihrer historischen Bedeutung:
Anupam Bhandari, 08.04.2022
Die Chipko-Bewegung ist eine der bekanntesten Basisbewegungen in Indien und war 1973 eine Inspiration für spätere Initiativen, die eine Art Umweltrevolution in Indien auslösten. Der Ausgangspunkt war eine Kampagne zur Rettung der Bäume in der Himalaya-Region von Uttarakhand, bei der Dorffrauen mit ihren Körpern die Bäume vor den Äxten der Holzfäller und der Verarbeitung zu Tennisschlägern schützten. Vor diesem Hintergrund beschreibt dieser Beitrag weniger bekannte Aktivitäten und Akteur*innen in der Phase 1977/78, die zum Erfolg der Chipko-Bewegung beigetragen haben. Dabei wird vor allem der zentrale Grundsatz der Bewegung beleuchtet, dass Ökologie nachhaltiges Wirtschaften bedeutet.
In: countercurrents, April 2022
Shobita Jain, 1984
Die bereits 1982 durchgeführte Studie betrachtet die Chipko-Bewegung als eine bedeutende Erfolgsgeschichte im Kampf um die Livelihood- und Nutzungsrechte von Frauen und um die Rolle von Frauen in der Forstwirtschaft und im Umweltschutz lokaler Gemeinschaften. Die kollektive Mobilisierung von Frauen in den Himalaya-Dörfern für die Erhaltung der Wälder führte zu einem Konflikt und Rollenbruch hinsichtlich ihres eigenen Status in der Gesellschaft. Die Frauen forderten, ebenso wie die Männer an den Entscheidungsprozessen beteiligt zu werden. Das führt zum Widerstand von Männern gegen die Einbeziehung der Frauen in die Chipko-Bewegung. Einerseits streben die Frauen nach einer Veränderung ihrer Stellung in der Gesellschaft, andererseits unterstützen sie eine soziale Bewegung, die sich dem Wandel, nämlich Entwicklung durch industrialisierte Ressourcennutzung, widersetzt.
In: Unasylva 146, 1984/4, Women in Forestry
Ramachandra Guha, 27.03.2023
Auf die Chipko-Bewegung vor 50 Jahren folgte eine Reihe weiterer Basisinitiativen, die die Kontrolle der Gemeinschaften über Wälder, Weideland und Wasser forderten. Wissenschaftler*innen sind der Auffassung, dass sie Perspektiven für eine Neugestaltung der indischen Entwicklung aufzeigten: An Stelle des energie-, kapital- und ressourcenintensiven Wirtschaftsmodells, das Indien nach der Unabhängigkeit 1947 umsetzte, eine Entwicklung zu verfolgen, die stärker von unten nach oben gerichtet, gemeinschaftsorientierter und umweltverträglicher ist.
In: Scroll, March 2023
Das Buchkapitel 'The Chipko Movement' von Vandana Shiva im Buch Ecology and the Politics of Survival: Conflicts Over Natural Resources in India (1991) betont die von Sundarlal Bahuguna propagierten ökologischen Aspekte der Chipko-Bewegung gegenüber den ökonomischen.
Der Artikel von Ramachandra Guha fokussiert auf C.P. Bhatt, einen der wichtigsten (männlichen) Organisatoren der Bewegung für eine lokal nachhaltige, ökonomische Entwicklung, den er 2002 in The Hindu publizierte.
Der Beitrag Remembering Chipko Movement: The Women-led Indigenous Struggle von Pallavi in Feminism in India (11.07.2019) analysiert die Mechanismen kollektiver Organisierung und Machtbildung.
Mapping the notion of women farmers in the state vis-a-vis land ownership, agricultural work and their presence in the protests
Novita Singh, 16.01.2023
Je mehr die Landwirtschaft von Märkten und Profitmachen bestimmt wird, desto mehr wurden Bäuerinnen an den Rand gedrängt. Zunächst verloren viele durch die Grüne Revolution ihre Jobs. Ihre zunehmend untergeordnete Rolle in der Landwirtschaft ist nicht einfach eine Frage geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, sondern patriarchaler Machtzuteilung. Sie fühlen sich unter einer doppelten "Versklavung": durch den Staat und durch das Patriarchat: beide verweigern ihnen ihre Rechte, zum Beispiel an Land. Deshalb beteiligten sich Frauen in großer Zahl an den Bäuer*innenkämpfen 2020/21. Sie realisierten, dass die neuen Landwirtschaftsgesetze die Interessen von Großunternehmen und nicht der lokalen kleinen Farmer*innen begünstigen und Frauen erneut Verlierer*innen sein würden. Doch die Bauerngewerkschaften sind immer noch männerdominiert und ignorierten die Forderung der Bäuerinnenorganisation MAKAAM, Frauen in das Organisationskomitee der Proteste aufzunehmen. MAKAAM kämpft weiter für die Anerkennung von Frauen als Bäuerinnen und für Landbesitz, der die Grundlage für viele Rechte wie Kreditvergabe und Qualifizierung ist.
In: Feminism in India, January 16, 2023
Redaktionsnetzwerk Südasien, Dezember 2022
Seit Jahrzehnten ist die Einführung genmanipulierter Pflanzen in der Landwirtschaft heftig umstritten, besonders in Indien, wo die Suizide von tausenden verarmter Kleinbauern auf die Verschuldung im Zusammenhang mit der Einführung gentechnisch veränderter Baumwolle (Bt-Cotton) zurückgeführt werden. Aktuell gibt es einen heftigen Streit über die Freigabe einer gentechnisch veränderten Senfsorte und damit der ersten Nahrungsmittelpflanze für den kommerziellen Anbau. Himanshu Nitnaware hat für Down to Earth die Geschichte der Zulassung des GMO-Senfs mit der kürzlich überraschend schnellen Feststellung der Umweltverträglichkeit und der Freigabe für Feldversuche nachgezeichnet. Nicht nur Imker protestierten gegen die Zulassung, sondern GMO-kritische Organisationen fragen erneut grundsätzlich, ob Indien überhaupt genmanipulierte Senfölpflanzen braucht.
Über die Freigabe ist auch ein heftiger Streit zwischen der Regierungspartei BJP und ihrer militanten Basisorganisation RSS beziehungsweise den ihr nahestehenden Bäuer*innenorganisationen Swadeshi Jagaran Manch (SJM) und Bhartiya Kisan Sangh (BKS) entbrannt. Diese Entscheidung habe die gesamte Agrarwelt schockiert, schreibt Indra Shekhar Singh in The Wire. Im Gegensatz zur Behauptung des Wissenschaftlers, der die Sorte entwickelt hat, handelt es sich dabei nicht um einen nationalen (‚swadeshi’) Erfolg, vielmehr wurde dafür patentierte Technologie des Gentech-Giganten Bayer eingesetzt.
Wie umstritten das Thema ist, zeigt die Klage gegen die jüngst von der Regierung beschlossene Einführung von genmanipulierten Senfpflanzen vor dem Obersten Gerichtshof. Bharat Dogra von der Kampagne Save Earth Now fasst in seinem Beitrag die Gründe für die Klage zusammen wie zum Beispiel die Risiken der genetischen Kontamination der Biodiversität und die Umweltrisiken wie die mögliche Vergiftung von Wasser, Nutztieren und wilden Pflanzen.
Um die Kontroverse einzuordnen, sei hier noch einmal an frühere Auseinandersetzungen um GMOs zwischen Bäuer*innenorganisationen erinnert. Trotz Verbots begannen Landwirte, eine herbizid-resistente Sorte von gentechnisch veränderter Bt-Baumwolle (HTBt-Baumwolle) anzupflanzen. Die Organisation Shetkari Sanghatana, die 1979 mit dem Slogan “Freedom of access to markets and to technology” gegründet worden war, rief 2019 eine Bewegung zivilen Ungehorsams (‘satyagraha’) à la Gandhi aus, um einen Dialog über wissenschaftliche Innovation und Landwirtschaft anzustoßen.
Does India really need GM mustard
Himanshu Nitnaware, 11.12.2022.
Quelle: Down to Earth, December 11, 2022
Keen on GM Mustard, Government Plays Tug-of-War With RSS
Indra Shekhar Singh, 14.12.2022
Quelle: The Wire, December 14, 2022
Threat of Genetic Contamination Highlighted in Supreme Court of India
Bharat Dogra, 04.12.2022
Quelle: Countercurrents, December 4, 2022...
With 'GM Satyagraha', Maharashtra Farmers Want Public Dialogue About GM Crops
Sukanya Shantha, 07.07.2019
Quelle: The Wire, July 7, 2019
Snigdhendu Bhattacharya, 28.11.2022
Landwirtschaft und Bäuer*innenkämpfe: Die Bäuer*innenorganisationen, die die Modi-Regierung zu ihrer größten Niederlage gezwungen haben, gehen wieder auf die Straße und beklagen gebrochene Versprechen. Im Zentrum der aktuellen Proteste stehen Forderungen zu Mindestpreisen für landwirtschaftliche Produkte. Allerdings ist umstritten, ob diese allein die Situation aller Bäuer*innen entscheidend verbessern können.
Quelle: The Diplomat, 28. November 2022
Speak Up! Deutsche Übersetzung: Link
Redaktionsnetzwerk Südasien, November 2022
Arbeit und Arbeitskämpfe: Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) arbeiten mehr als 80 Prozent der indischen Arbeitskräfte informell. Informelle Arbeit findet sich sowohl in den traditionellen als auch in modernen Sektoren. Durch neuere Entwicklungen wie Digitalisierung und Plattformisierung verändern sich die Arbeitsformen und -verhältnisse und kommen neue Formen von Informalität und Prekarität hinzu. Der Zuwachs von informeller Arbeit im formellen Sektor beruht auf Vertrags- und Leiharbeit und zunehmender Auslagerung. Frauen arbeiten häufiger informell als Männer. Informell Arbeitende in verschiedenen Sektoren sind zunehmend organisiert. Sie kämpfen für eine rechtliche Absicherung ihrer Arbeit, den Einschluss in Mindestlohn- und Rentenregelungen und Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Eine Sammlung von Links, Texten und Podcasts stellt exemplarisch einige zentrale Sektoren informeller Arbeit dar.
Visual Storyboard Team, 30.10.2022
Arbeitsverhältnisse: Der Industriekomplex von Narela ist eine der größten Wirtschaftszonen in Asien, vollgepackt mit florierenden Kleinbetrieben. Er lebt ausschließlich von der Arbeit von Geringverdiener*innen, die kaum Einfluss auf ihre Bezahlung und Lebensbedingungen haben. Um Handel und Industrieproduktion zu liberalisieren, begann der indische Staat Anfang der 1990er Jahre mit der Umsetzung einer Reihe neoliberaler Wirtschaftsreformen nach dem Vorbild des Washington-Konsens. Dieser Liberalisierungsschub in einigen Sektoren öffnete zwar in der Zeit nach 1991 die Türen für ausländische Kapitalinvestitionen, doch der Staat war nicht frei von einer "Vereinnahmung" durch private Geschäftsinteressen in den Bundesstaaten und Provinzen. Ein näherer Blick auf die Industriekorridore in und um die nationale Hauptstadtregion Delhi und die Struktur der bestehenden Beschäftigungsmöglichkeiten veranschaulicht die strukturellen Schwächen des neoliberalen Pakts zwischen Staat und Arbeitnehmer*innen. Link
Rahul Mukherji, 27.07.2022
Autoritarismus: Das Markenzeichen indischer Demokratie war jahrzehntelang die lebendige, vielfältige Zivilgesellschaft, die ihre Diversität spiegelte. Zwar waren auch schon frühere indische Regierungen misstrauisch gegenüber Nichtregierungsorganisationen (NRO). Aber jetzt werden von der Modi-Regierung die Rechte zivilgesellschaftlicher Gruppen durch Gesetze wie dem zur ausländischen Finanzierung (FCRA) und dem zur Vermeidung von Geldwäsche (PMLA) nach und nach abgebaut. Und das, obwohl Teile der Zivilgesellschaft während der Covid-19 Pandemie unermüdlich Hilfe an der Basis leisteten, während der Staat durch Abwesenheit glänzte. Link
Sunny Uke und Prashant Bhaware, 06. Oktober 2022
Kastengesellschaft: Dalit-Politik und -Organisationen spielen eine immer wichtigere Rolle in der indischen politischen Landschaft, unter anderem die 1984 als Interessenvertretung der Dalits gegründete Bahujan, die „Partei der Mehrheitsbevölkerung“, die zeitweise an Regionalregierungen beteiligt war. Angesichts der gegenwärtigen politischen Krise sehen die beiden Verfasser in einer Wiederbelebung der republikanischen Ideen von B.R. Ambedkar eine Chance für eine sozialistische
Rettung der säkularen Demokratie. Wir halten den Text für einen wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen politischen Diskussion der Dalits. Zentral ist seine Kritik an der Bahujan-Position, die auf eine Mehrheit innerhalb des Kastensystems abzielt, während Ambedkars Position die Überwindung des Kastensystems war. Für das bessere Verständnis wurde der Text in der Übersetzung leicht bearbeitet. Link Redaktionsnetzwerk Südasien
Redaktionsnetzwerk Südasien, Oktober 2022
Bildung: Das indische Bildungssystem, Schulen und Universitäten rutschen weiter in eine Krise ab. Einerseits findet personell und politisch eine Gleichschaltung mit der hindu-chauvinistischen Ideologie des Modi-Regimes statt, andererseits eine neoliberale Orientierung auf Privatisierung durch Sparmaßnahmen bei der Beschäftigung und Bezahlung von Lehrpersonal und durch stärkere finanzielle Belastung der Lernenden/Studierenden. Leidtragende der Bildungsdefizite ist die Generation von Schüler*innen und Studierenden, deren Bildung bereits wegen der Covid-Pandemie zu kurz gekommen sind. Im Folgenden sind einige Links zusammengestellt, die eine Momentaufnahme des Bildungssektors vermitteln sollen. Link
India Justice Project, 26.September 2022
Autoritarismus: Das India Justice Project verurteilt die landesweiten Übergriffe und Razzien gegen systemkritische Organisationen, die die Rechte von Muslim*innen vertreten, mit dem Vorwurf des Terrorismus und krimineller Aktivitäten. Politische Grundrechte und die Demokratie werden auf diese Weise systematisch ausgehebelt. Link
von Samina Salim, Mai 2022
Autoritarismus: Anlässlich des Kopftuchverbots für muslimische Schülerinnen reflektiert Samina Salim, eine gebürtige Inderin, die seit über 20 Jahren in den USA lebt, in diesem Beitrag, dass Indien heute nicht mehr das multikulturelle diverse Land ihrer Kindheit ist. Politisch geschürt und von Verschwörungstheorien getrieben hat sich in breitenBevölkerungsschichten eine aggressive anti-islamische Stimmung ausgebreitet. Wir dokumentieren Salims Meinungsartikel, auch wenn wir nicht alle ihre Einschätzungen teilen. Das trifft insbesondere auf die Behauptung zu, Indien befinde sich schon auf dem Weg zu einem „Völkermord“ an den Muslim:innen.
Deutsche Übersetzung: Speak Up!Link
von People`s Union for Civil Liberties (PUCL), Mai 2022
Autoritarismus: Indiens Oberster Gerichtshof hat die Exekutive aufgefordert, keine Verhaftungen unter Berufung auf Volksverhetzung vorzunehmen und den entsprechenden Paragrafen des Strafgesetzbuchs zu überdenken. Unter der Modi-Regierung wird das Gesetz aus der Kolonialzeit exzessiv gegen Regierungskritiker:innen eingesetzt.
Deutsche Übersetzung: Speak Up! link
Mai 2022
Autoritarismus: Im Vorfeld der 6. Deutsch-Indischen Regierungskonsulationen haben Organisationen von in Deutschland lebenden indischen Staatsbüger:innen einen offenen Brief an die deutsche Regierung geschrieben, um auf die dramatische Menschenrechtssituation in Indien aufmerksam zu machen. Mit einem Offenen Brief haben sich am 28. April Organisationen von in Deutschland lebenden indischen und deutschen Staatsbürger:innen an Außenministerin Baerbock, die Menschenrechtsbeauftragte Amtsberg, Bundeskanzler Scholz und weitere deutsche Bundestags- und Europaabgeordnete gewandt, um anlässlich der 6. Deutsch-Indischen Regierungskonsultationen ihre Bedenken bezüglich dieses Treffens auszudrücken und auf den autoritären Rechtsruck und die alarmierende Menschenrechtslage in Indien hinzuweisen. Wir halten es für wichtig, den offenen Brief zu dokumentieren. Wir möchten zugleich betonen, dass wir nicht alle politischen Einschätzungen und Schlussfolgerungen des offenen Briefes uneingeschränkt teilen. Das trifft insbesondere auf die thesenhaften Ausführungen zu einem drohenden „Völkermord“ an den Muslim:innen in Indien zu.
Speak Up! Deutsche Übersetzung: Link
Bharat Bushan, Mai 2022
Autoritarismus: Der Journalist und Kolumnist Bharat Bhushan beschreibt, wie das hindu-fundamentalistische Regime in Indien den Medien immer engere ideologische Fesseln anlegt. Die internationale Kritik an der Missachtung von Verfassungsrechten kann die Modi-Regierung aber nur schwer kontrollieren. Link
März 2022
Feminismus, Gender: Swati Kamble versteht sich als Dalit-Aktivistin und intersektionale Feministin. In diesem Interview mit Christa Wichterich über Dalit Feminismus lehnt sie ein Konzept von Feminismus für Dalits ab, welches durch Feministinnen der oberen Kasten geprägt ist.
Speak Up! Audio englisch: Link
von Mantasha Ansari, März 2022
Feminismen, Gender: Kamla Bhasin, die international bekannte indische Feministin, setzte sich zeitlebens ein für Frauenrechte in Südasien. Ihre Ausstrahlungskraft reichte weit darüber hinaus und bereicherte die Frauenbewegung weltweit. Sie starb im September 2021. Die junge indische Politologin Mantasha Ansari zeigt in beeindruckender Weise auf, warum Kamla Bhasins Kampf für Gleichstellung, Freiheit und die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen an politischer Macht auch heute noch relevant ist.
Speak Up! Deutsche Übersetzung: Link
Januar 2022
Feminismus, Gender: Srilatha Batliwala berichtet im Gespräch mit Christa Wichterich über ihr Verständnis von Feminismus, das Besondere an südasiatischen Feminismen, warum sie den Begriff Gender selten benutzt, und davon, dass jungen Feminist:innen jenseits von Empowerment eine Veränderung gesellschaftlicher Strukturen zum Ziel haben.
Speak Up! Video englisch: Link
Dezember 2021
Feminismus, Gender: Kalpana Sharma ist eine der bekanntesten unabhängigen Journalistinnen in Indien. Gewalt gegen Frauen in den unterschiedlichsten Formen war ein Schwerpunkt ihrer Berichterstattung in den Medien und das Thema ihres Buches „The Silence and the Storm“.
Speak Up! Video englisch: Link
Interview mit Sunil Kumar, Dezember 2021
Bäuer*innenkämpfe: Im November 2021 hat die indische Regierung überraschend die Zurücknahme der drei umstrittenen Landwirtschaftsgesetze angekündigt, die im Mittelpunkt der von der Vereinigten Bauernfront (Samyukta Kisan Morcha / SKM) angeführten Protestaktionen standen. Es waren die größten Proteste, die Indien seit Jahrzehnten erlebt hat. Der Aktivist und Autor Sunil Kumar erklärt in einem Interview was für die Mobilisierungsfähigkeit der bäuerlichen Protestbewegung entscheidend war und ob der Erfolg der Bewegung der Bäuer:innen den Anfang vom Ende der Regierung Modi bedeuten kann.
Speak Up! Deutsche Übersetzung: link
November 2021
Bäuer*innenkämpfe: Die indische Bäuer:innenbewegung hat nach einem Jahr Protesten und Belagerung einen riesigen Erfolg erzielt: die Regierung hat angekündigt, die drei umstrittenen Landwirtschaftsgesetze zurückzuziehen. Das zielt unmissverständlich auf die bevorstehenden Wahlen in zwei nordindischen Bundesstaaten. Die Bäuer:innen warten nun auf die Umsetzung der Ankündigung und halten ihre Forderungen nach der Rücknahme weiterer Gesetze und nach einem demokratischeren Regierungsstil aufrecht.
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von Navsharan Singh, November 2021
Bäuer*innenkämpfe: Im Windschatten der Corona-Pandemie hatte die indische Regierung im September 2020 drei neue Gesetze auf den Weg gebracht, die den Landwirtschaftssektor der Macht großer Agrarkonzerne ausgeliefert hätten. Diese Gesetze hat die Regierung Modi nun überraschend zurückgenommen. Damit gibt sie dem anhaltenden Druck einer breiten Protestbewegung nach, die sich, angeführt von den bäuerlichen Gewerkschaften, vor fast genau einem Jahr vor den Toren von New Delhi formierte. Am 26. November 2021 jährt sich ihr ungebrochener Widerstand, in dem Frauen eine wichtige Rolle spielen. Er richtet sich nicht nur gegen die erwähnten Landwirtschaftsgesetze, sondern darüber hinaus gegen eine neoliberale Politik, die die Existenz von Millionen Kleinbäuer:innen und Landlosen gefährdet. Der Protest hat sich mittlerweile zur größten und am längsten andauernden gewaltfreien Bewegung in der Geschichte Indiens entwickelt. Die Rücknahme der drei Landwirtschaftsgesetze ist ihr historischer Erfolg.
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Interview mit Radhika Menon zu ASHAs, November 2021
Autoritarismus: Zum Höhepunkt der Pandemie 2020 wurden ‚freiwillige’ Gesundheitsarbeiterinnen, die für ihre Arbeit keinen regelmäßigen Lohn erhalten, dazu verpflichtet, Aufgaben der Pandemiebekämpfung in ihren Dörfern, vor allem gegenüber Wanderarbeiter:innen und ihren Familien zu übernehmen. Ihr Lohn dafür war symbolischer Applaus und Schlagzeilen in einer militarisierten Sprache in allen Medien, dass die ASHAs „an der Front“ und in der “vordersten Verteidigungslinie kämpfen“. Vor dem Hintergrund internationaler Debatten über neue Formen von Zwangsarbeit muss konstatiert werden, dass die schwierigsten und gesundheitsgefährdetsten Aufgaben den Gemeindearbeiterinnen als schwächsten Gliedern in der Kette der Gesundheitsversorgung übertragen wurden. Sie streikten und forderten – wie Gesundheitsarbeiter:innen in anderen Ländern – ein gut finanziertes öffentliches Gesundheitswesen.
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von International Dalit Solidarity Network (IDSN), Oktober 2021
Kastengesellschaft: Sozioökonomische und gesundheitliche Folgen der Covid-Pandemie betreffen in Indien besonders Dalits und andere marginalisierte Gruppen. Die Kluft zwischen ihnen und denjenigen, die höher im Kastensystem stehen, scheint zu wachsen. Soziale Distanzierung verstärkt soziale Ungleichheiten.
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von Goldy M. George und Sabina Yasmin Rahman, Oktober 2021
Kastengesellschaft: Der Begriff der 'sozialen Distanzierung', den die indische Regierung von Beginn der Pandemie an popularisierteruft bei Dalits, Adivasi und Muslim:innen die Erinnerung und das Stigma wach, die mit Kasteismus und Exklusion, Trauma und Unterdrückung verbunden sind. In den beiden hier dokumentierten Artikeln wird beleuchtet, welchen Einfluss die Verwendung des Begriffs 'soziale Distanzierung' auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Dimension hat und wie dadurch gesellschaftliche Lebenswirklichkeiten und neue Ausgrenzungen konstruiert werden. Während der Text von Goldy George auf Dalits fokussiert, macht Sabina Rahman ein breiteres soziales Spektrum von Ausgrenzungen auf. Beide Autor:innen stimmen darin überein, dass soziale Distanzierung politisch eingesetzt wird, um soziale Ächtung und Ungleichheiten zu erhalten oder zu verstärken.
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von Nivedita Menon, September 2021
Autoritarismus: Die Covid-Pandemie wird sowohl von der Politik des Hindu-Reichs als auch vom neoliberalen Kapitalismus genutzt, um ihre Vorherrschaft durch Islamophobie und den Lockdown zu stabilisieren. Corona-Kapitalismus bedeutet, dass am oberen Ende im Gefolge der Corona-App ein Datenkapitalismus als politisches und wirtschaftliches Überwachungssystem installiert wird, während am unteren Ende Zwangsarbeit und extrem prekäre Arbeit durch die Wanderarbeiter:innen geschaffen wird, um die Produktion zu sichern.Nivedita Menon beleuchtet Aspekte des Corona-Kapitalismus.
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von Pamela Philipose, September 2021
Autoritarismus: Die hindufundamentalistische BJP-Regierung unter Premierminister Modi nutzt die Covid-19- Krise, um ihre Vorherrschaft zu stärken und die Demokratie zu unterminieren. Im Schatten der Pandemiebekämpfung wurden drakonische Gesetze und Maßnahmen erlassen, die dazu beitragen, Minderheiten zu kriminalisieren und die Kluft zwischen Reich und Arm weiter zu vergrößern. Besonders betroffen sind Frauen, die mehr denn je unter Gewalt, Armut und Rechtlosigkeit zu leiden haben.
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