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Reportagen & Analysen

INDIEN



"We want dignity"

Staatsmacht gegen neuerliche Bäuer*innen-Proteste in Indien

Redaktionsnetzwerk Südasien, Mitte März 2024

Landwirtschaft und Bäuer*innen:Zwei Jahre, nachdem indische Bauern und Bäuerinnen durch eine einjährige Belagerung der Ausfallstraßen von Delhi die Regierung zwingen konnten, drei neue Landwirtschaftsgesetze zurückzunehmen, sind sie wieder auf den Straßen. Seit Mitte Februar fordern sie jetzt von der Regierung garantierte Mindestpreise für 22 ihrer landwirtschaftlichen Produkte, um ihre Existenz zu sichern. Als am 21. Februar einer der protestierenden Bauern getötet wurde, setzten die Bauernorganisationen die Proteste für einige Zeit aus. Danach marschierten sie weiter nach Delhi, und demonstrierten am 12. März in der Stadt, allerdings hatte die Regierung ihre Zahl auf 5000 beschränkt. Doch sie sind entschlossen, trotz der Einschränkungen und Repressionen nicht aufzugeben. Der Zeitpunkt der erneuten Proteste zwei Monate vor den Wahlen ist hochbrisant. Bäuer*innen stellen eine wichtige Wählerschaft dar. Deswegen reagiert die Regierung nervös, setzt Drohnen, Tränengas und Pellets gegen die Protestierenden ein, verbietet Traktoren und Lastwagen bei den Protesten und blockiert die Zufahrten nach Delhi.

Rifat Fareed,We want dignity’: Indian farmers defy pellets, drones to demand new deal. Al Jazeera, February 21, 2024

Rishi Lekhi and Ashok Sharma, Thousands of Indian farmers protest in New Delhi demanding a law guaranteeing minimum crop prices. Associated Press, March 14, 2024


Politisches Kesseltreiben gegen Harsh Mander

The Wire Staff, 3. Februar 2024

Autoritarismus: Der Menschenrechts- und Friedensaktivist Harsh Mander und die von ihm gegründete NGO Centre for Equity Studies (CES) sind schon häufig in die Schusslinie indischer Verfolgungsbehörden geraten. Am 2. Februar wurden Manders Privaträume und das CES von der Polizei durchsucht. Das Central Bureau of Investigation behauptet, das CES habe gegen die Finanzierungsregel des Foreign Contribution Regulation Act (FCRA) verstoßen. Mehr als 250 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Indien verurteilen in einer Presseerklärung den erneuten Versuch des indischen Staates, Harsh Mander und das CSE mundtot zu machen. Mander und das CES stehen in der vordersten Reihe im Kampf um die Einhaltung verfassungsmäßiger Rechte und für das friedliche Zusammenleben der Glaubensgemeinschaften in Indien.

The Wire Staff, ‘Vindictive Witch Hunt’: Over 250 Activists, Scholars Condemn Raids on Harsh Mander and His NGO. TheWire, February 3, 2024


Manipur: Frontlinien und Allianzen werden immer unübersichtlicher

Redaktionsnetwerk Südasien, November 2023

Der bekannte Sozialwissenschaftler und Menschenrechtsaktivist Harsh Mander zeichnet ein düsteres Bild der Lage in Manipur, wo der Bürgerkrieg mit unverminderter Brutalität fortgesetzt wird. Der nordöstliche Bundesstaat ist praktisch zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen (Kukis, Meitei und Naga) geteilt. In der Geschichte wechselten sich Phasen des friedlichen Nebeneinanders und gewaltförmiger Auseinandersetzungen ab, wobei sich die Zahl militanter Gruppen in allen Bevölkerungsgruppen erhöhte. Ein Hauptverantwortlicher für die Eskalation ist nach Auffassung des Verfassers Ministerpräsident N Biren Singh (BJP), ein Verbündeter von Meitei-Militanten. Die Gewaltexplosion seit Mai 2023 folgte auf eine Ankündigung hin, die Anbaugebiete der Kuki unter Waldschutz zu stellen und die Bevölkerung selbst zu vertreiben. Die Zentralregierung Delhi und die Regierung in Manipur haben es seither versäumt, Übergriffe zu verhindern oder strafrechtlich zu verfolgen. Frontlinien und Allianzen werden immer unübersichtlicher.

Harsh Mander, Manipur: A Land of Settled Grief. The Wire, November 1, 2023.


Indiens oppositionsfreies Parlament

Redaktionsnetzwerk Südasien, Dezember 2023/Januar 2024

In der letzten Parlamentssitzung vor den Neuwahlen im nächsten Jahr wurden Ende Dezember 2023 146 Parlamentsmitglieder wegen unliebsamer Anfragen an die Regierung und ethischem Fehlverhalten aus Unter- und Oberhaus suspendiert. Die Bürgerrechtsorganisation PUCL kritisert das Vorgehen als ‚einen Schandfleck in der Geschichte der verfassungsmäßigen Demokratie in Indien‘.


India’s Opposition-free Parliament

Kavita Chowdhury, 28.December 2023

Die regierende Indische Volkspartei (BJP) bemüht sich um ein oppositionsfreies Parlament. In der letzten Parlamentssitzung vor den Neuwahlen im nächsten Jahr wurden Ende Dezember 2023 146 Parlamentsmitglieder wegen unliebsamer Anfragen an die Regierung und ethischem Fehlverhalten aus Unter- und Oberhaus suspendiert, ein Vorgehen, das der oppositionelle INDIA Block aus 28 Parteien als autokratische und undemokratische Bulldozing-Strategie bezeichnete. In ihrer Abwesenheit verabschiedete die Regierung 14 teilweise umstrittene Gesetze wie drei neue Strafrechtsgesetze, die mit dem Anspruch der Dekolonisierung das 160 Jahre alte, von den Briten eingeführte Strafrecht ersetzen.

Kavita Chowdhury, India’s Opposition-free Parliament. The Diplomat, December 28, 2023


Stellungnahme der People’s Union for Civil Liberties (PUCL)

Die Bürgerrechtsorganisation PUCL fordert die Rücknahme der Suspendierungen von Mitgliedern des Parlaments, die ‚einen Schandfleck in der Geschichte der verfassungsmäßigen Demokratie in Indien‘ darstellen würden.  Sie hätten zur Folge, dass 190 Millionen Menschen nicht im Unterhaus repräsentiert seien und im Oberhaus die von oppositionellen Parteien geführten Bundesstaaten weniger stark vertreten sind.

PUCL Press statement, Revoke suspension of 146 Members of Parliament. December 23, 2023


Proteste der Lastwagenfahrer
Ein Beispiel für den Erfolg der Politik der Straße

Deepanshu Mohan, 3. Januar 2024

Inzwischen tut der staatliche Machtapparat alles, um öffentlichen Widerstand und bürgerliche Freiheiten zu unterdrücken und Rechtsstaatlichkeit (Rule of law) durch Recht als von der Regierungsmacht definiertes Herrschaftsinstrument (Rule by law) zu ersetzen. Angesichts dieses Vorgehens stellt sich die Frage, wie Opposition überhaupt noch aussehen kann. Massenproteste auf der Straße scheinen derzeit die einzige Möglichkeit, Druck auf die Modi-Regierung auszuüben und sie zu Verhandlungen zu zwingen. Ein Beispiel dafür sind die Streiks der Lastwagenfahrer Anfang Januar 2024, die zumindest die Zusage der Regierung erreicht haben, die neuen Strafrechtsgesetze erst nach Konsultationen mit ihrer Gewerkschaft auch auf Delikte wie Fahrerflucht anzuwenden. Vorbild sind die gewaltfreien Bäuer*innenproteste von 2021/22, die eine Rücknahme von dreiLandwirtschaftsgesetzen erreichten. Um die indische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegen den staatlichen Autoritarismus zu verteidigen, sollten im Vorfeld der anstehenden Wahlen der oppositionelle INDIA Block Allianzen mit solchen Formen von ‚People’s Power’ bilden.

Deepanshu MohanTrucker Protests Are Another Instance of the Success of Street Politics. The Wire, 3. Januar 2024


Assam: Frauen und Kinder in Internierungslagern

‘I’d Cut My Saree Into Pieces to Cover My Child’

22. Dezember 2023

Die Mehrzahl der als staatenlos identifizierten Personen in Assam sind Frauen, weil sie noch seltener als Männer offizielle Dokumente über den Aufenthalt ihrer Eltern und Großeltern in Indien vorweisen können. Wenn ein Tribunal sie mangels Papieren zu ‚Ausländer*innen‘ erklärt, werden sie in sogenannten Detention Centers interniert, selbst wenn sie schwanger sind. So sind die meisten Internierten in den Lagern Frauen mittleren Alters mit ihren Kindern. Einige waren bereits jahrelang in verschiedenen Lagern, ständig unterschiedlichen Formen physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Dadurch markieren die Bewacher*innen ihre Überlegenheit als indische Staatsbürger*innen an den Körpern der ‚Bangladeshi‘-Frauen und ihrer Kinder.

Deepanshu Mohan, Samragnee Chakraborty, Yashovardhan Chaturvedi, Hima Trisha M., Nitya Arora, Rieshav Chakraborty and Aman Chain,  ‘I’d Cut My Saree Into Pieces to Cover My Child’: How Women Survive in Assam’s Detention Centres. The Wire, December 22, 2023

Siehe dazu auch das Dossier: Krisenherd Nordostindien


Polizei-Einsatz gegen Adivasi-Widerstand gegen Bergbau

Im Bezirk Gadchiroli im Bundesstaat Maharashtra protestieren seit dem 11. März 2023 Adivasi gegen die Vergabe von Pachtverträgen für die Eröffnung von sechs Minen zum Eisenerzabbau. Das Waldgebiet von fast 5.000 Hektar ist bislang Lebensraum und – grundlage für die Madia-Gond. Der Bergbau würde Land, das ihnen heilig ist, ihre landwirtschaftliche Existenzgrundlage und ihre Gesundheit zerstören. Bereits jetzt werden in den Surjagarh-Bergen durch Minen, die 2011 den Betrieb aufgenommen haben, die umliegenden Gebiete, Flüsse und Felder mit dem rotem Staub aus den Minen und durch Abwässer kontaminiert. Die Gesundheit der Bevölkerung ist seitdem massiv beeinträchtigt. Am 10. November wurde der Protest durch einen brutalen Polizeieinsatz zerschlagen, Aktivist*innen inhaftiert. Die Sicherheitsbehörden behaupten, dass die Proteste von der bewaffneten und verbotenen Bewegung der Naxaliten unterstützt würden, ein seit Jahrzehnten gängiges Narrativ, um gegen jeden Widerstand der Adivasi vorzugehen und ihre Rechte zu unterlaufen, indem sie als „Maoist*innen“ und als „antinational“ abstempelt werden.
                                                                       Redaktionsnetzwerk Südasien, Dezember 2023

Sozialreformer*innen, Revolutionär*innen und historische Vorkämpfer*innen der Adivasi (von rechts nach links): Bhagat Singh, Jyotiba Phule, Savitribai Phule, Rani Durgavati, Dr. B.R. Ambedkar, Birsa Munda.Sozialreformer*innen, Revolutionär*innen und historische Vorkämpfer*innen der Adivasi (von rechts nach links): Bhagat Singh, Jyotiba Phule, Savitribai Phule, Rani Durgavati, Dr. B.R. Ambedkar, Birsa Munda.

Quelle: Sabrangindia, 21. November 2023


Gadchiroli: Police Arrest 21 After 'Brutal Crackdown' on 8-Month Adivasi Protest Against Mining

Anjali und Shubha, 22. November 2023

Am Morgen des 20. November wurde der Ort Todgatta im Distrikt Gadchiroli in Maharashtra von einem großen Polizeiaufgebot umstellt und anschließend zerstört. In dem Dorf hatten Demonstrant*innen aus über 70 Adivasi-Dörfern seit acht Monaten friedlich gegen die sechs geplanten und versteigerten Eisenerzminen protestiert.

Anjali und Shubha, Gadchiroli: Police Arrest 21 After 'Brutal Crackdown' on 8-Month Adivasi Protest Against Mining, in: The Wire, November 22, 2023

Citizen Groups in Solidarity with Adivasis and Anti-Mining Protestors in Gadchiroli, Maharashtra

5. Dezember 2023

In einer Solidaritätserklärung haben indische zivilgesellschaftliche Organisationen ihre Solidarität mit dem Kampf der Adivasi im Bezirk Gadchiroli zum Schutz ihres Landes und ihrer Wälder gegen Eisenerzabbauprojekte bekundet.


Does opposing mines & protecting our forests mean we support “Maoists”

sabrangindia, November 21, 2023

Der Artikel stellt die Ergebnisse eines Berichts vor, der bei einer öffentlichen Versammlung und Pressekonferenz in Neu-Dehli am 20. November 2023 zum Thema "Bewegung gegen Vertreibung und staatliche Repression" veröffentlicht wurde. Organisiert wurde die Veranstaltung vom Forum gegen Privatisierung und Militarisierung. Dokumentiert werden unterschiedliche Aspekte des Kampfes der Adivasi in Gadchoroli seit 2005 (mit einer Zeitleiste des Bergbaus in Surjagarh und Hinweisen auf weiterführende Informationen).


Chipko-Movement: Gentle Resistance

The Autobiography of Chandi Prasad Bhatt

Chandi Prasad Bhatt, born 1934, is the Gandhian activist best known for the pioneering groundwork which led to the start of Indian environmentalism, when in the early 1970s Himalayan peasant women “hugged the trees” as a form of non-violent protest against the logging of age-old forests, resulting in the internationally renowned Chipko Movement. Inspired by the Sarvodaya messages of Vinoba Bhave and Jayaprakash Narayan he renounced the security of a salaried career in favour of full-time social work. Gentle Resistance outlines the core sympathies of a man who fought to make women the equals of men, and who rejected caste to embrace Dalits as no different from himself. Beyond that, it shows us an unfamiliar aspect of India – peasant life in forested mountains where demanding weather conditions, a fragile ecology, and lack of opportunity blend into an eco-system being changed only now by consumerism and modernity.

Gentle Resistance: The Autobiography of Chandi Prasad Bhatt, by Samir Banerjee, Published by Permanent Black, October 2023

Siehe auch das Dossier: 50 Jahre Chipko-Bewegung


Drama am Silkyara-Tunnel und Hindutva-Politik

30. November 2023

Arbeit und Arbeitkämpfe: Die 41 Arbeiter, die beim Einsturz des Silkyara-Tunnels im nordindischen Uttarakhand am 12. November 2023 eingeschlossen wurden, sind zwar nach 17 Tagen in einer dramatischen Aktion gerettet worden. Damit geraten die Ursachen für die Beinahe-Katastrophe, die bereits bei der aktuellen Berichterstattung kaum erwähnt wurden, wieder in Vergessenheit. Wie die Umweltorganisation South Asia Network on Dams, Rivers and People (SANDREP) berichtet, sind die Warnungen von zahllosen Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen, darunter der bekannte Geologe CP Rajendran in Newsclick,vor einem Bau in dem ökologisch fragilen und erdbebengefährdeten Gebiet systematisch ignoriert worden. Ein Grund für die schludrige Planung und übereilte Durchführung ist nach Auffassung der Working Peoples Coalition der Druck der Regierung, die Verkehrsverbindungen zwischen vier hinduistischen Pilgerstätten auszubauen – Hindutva-Politik im Vorfeld der nächsten Wahlen ohne Rücksicht auf das Leben von Arbeitern.                                              Redaktionsnetzwerk Südasien

The Working Peoples’ Coalition (WPC), Rescue the Workers! Create accident-free workplaces! Erklärung vom 27. November 2023. Posted by Indian Labour Solidarity auf Twitter/X

Rashme Sehgal, Finally, a Light at the end of Silkyara Tunnel? In: newsclick, November 24, 2023

SANDRP, Nov 2023 Uttarakhand Barkot-Silkyara Tunnel Disaster: Where is rescue plan? November 15, 2023


Transgender Day of Remembrance Statement

All-India Feminist Forum, 20. November 2023

Feminismen/Queer: Das Statement des All-India Feminist Forum weist am 20. November, dem Tag, an dem an Transgender-Personen erinnert wird, auf deren Kämpfe gegen erfahrene Ungerechtigkeit und Gewalt hin, die in vielen indischen Bundesstaaten und weltweit stattfinden. Es erinnert vor allem an diejenigen, die entwürdigt, gequält, ermordet oder zur Selbsttötung gtrieben wurden. Sowohl die strukturelle institutionelle als auch die familiale Gewalt gegen Transgender-Personen bleibt oft unsichtbar und schließt sie von sozialer Sicherheit und Menschenrechten wie dem Recht auf Gesundheit und dem Recht auf Wohnung aus. Die vorherrschende gesellschaftliche Heteronormativität führt zu Transgender-Phobie. In Indien wurde das Transgender-Gesetz von 2019 nicht systematisch umgesetzt: Der Zugang zu Gesundheitsdiensten bleibt schwierig, Personalausweise für Transgender-Personen werden nur mit großen Verzögerungen ausgestellt, es wurden weder Quoten für Transgender-Personen eingeführt noch ein Wohlfahrtskomitee für sie eingerichtet. Das Statement fordert nachdrücklich Solidarität mit den Kämpfen von Transgender-Personen für Selbstbestimmung und Würde.

All-India Feminist Forum: National Alliance of People’s Movements, Transgender Day of Remembrance Statement, Remembrance and Resistance against Gendered Crimes & Injustices! November 20, 2023. Download (pdf)


Forderungen nach Geschlechterneutralität in der indischen Gesetzgebung

Prachi Dubey, 2023

Feminismen: Obwohl in Indien eine Vielzahl von Gesetzen den Schutz von Frauen vor Gewalt und Diskriminierung garantieren und eine rechtliche Gleichstellung und ihr Empowerment fördern soll, hat sich auch nach der national und international skandalisierten Vergewaltigung und Ermordung von Nirbhaya 2012 die Sicherheitslage für Frauen nicht verbessert. Stattdessen ist eine anti-feministische Männerrechtsbewegung entstanden, die Männer vor „falschen Beschuldigungen“, aber auch vor sexueller Belästigung und Gewalt durch Frauen schützen will. Sie fordert eine geschlechterneutrale Umformulierung des Vergewaltigungsgesetzes, das bisher nur Männer als Schuldige vorsieht. Auch Transgender-Personen und gleichgeschlechtliche Paare fordern an Stelle einer „rechtlichen Bevorzugung“ von Frauen Gleichheit vor dem Gesetz durch Schutz vor Diskriminierung und Gewalt. Der Beitrag gibt einen Überblick über die geschlechtsspezifische Gesetzeslage und fordert eine geschlechtsneutrale gleichheitsorientierte Reformulierung von Gesetzen, was mit einem internationalen Trend korrespondiert.

Prachi Dubey, Gender Neutrality in India and it’s Analysis, in: India Law Journal, 2023


Indiens Plattform-Beschäftigte werden zu Tode flexibilisiert

Anjana Karumathil, 28. Oktober 2023

Arbeit und Arbeitskämpfe: Der Artikel ordnet Plattform-Arbeit als Teil des Nekro-Kapitalismus ein, der die Körper, Zeit und das Leben der Lieferdienste und Fahrradkuriere mithilfe von Algorithmen schonungslos zur Profitmaximierung nutzt. Die Regierung in Delhi hat die wachsende Zahl von Arbeitskräften in der Gig-Ökonomie als ‚Selbständige‘ definiert, wodurch sie keinen Anspruch auf soziale Sicherheit haben. Dagegen hat der westindische Bundesstaat Rajasthan ein Gesetz für einen Wohlfahrtsfonds für Gig-Arbeiter*innen eingeführt. Zunehmend wehren sich die Arbeiter*innen individuell mit „Algoaktivismus“ gegen die Herrschaft der Algorithmen und die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, unterstützt von neuen Gewerkschaften, die allerdings noch keine legale Anerkennung haben.

Anjana Karumathil, India’s platform workers being flexed to death. In: EastAsiaForum, October 28, 2023

Siehe dazu auch: The Gig Economy in India: Unveiling the Exploitation of Workers, Azaad Awasz, Volume VII, Issue 1, Juli 2023


Operation 'NewsClick'

Angriff auf die Pressefreiheit in Indien mit fast militärischem Ausmaß

Redaktionsnetzwerk Südasien, Oktober 2023

Repression:  Am Morgen des 3. Oktober 2023 wurden Wohnungen und Arbeitsräume von fast 100 Journalist*innen und Aktivist*innen, die mit dem Nachrichtenportal NewsClick direkt oder indirekt in Verbindung stehen, durchsucht und Telefone, Laptops, Festplatten und Bücher beschlagnahmt. Die Aktion führte eine Sondereinheit der Polizei von Delhi durch, die normalerweise Terrorismusfälle untersucht. NewsClick wird vorgeworfen, Gelder von einem pro-chinesischen Lobbyisten aus den USA angenommen zu haben, um die Politik der indischen Regierung zu kritisieren und chinesische Propaganda zu verbreiten. Prabir Purkayastha, Herausgeber von NewsClick, und Amit Chakravarty, Personalleiter des Nachrichtenportals, sollen zudem einen Teil der Gelder auf die Konten von prominenten Menschenrechtsaktivist*innen geleitet haben. Purkayastha und Chakravarty wurden auf der Grundlage des Gesetzes zur Verhinderung rechtswidriger Handlungen (Unlawful Activities (Prevention) Act) festgenommen. Reporter ohne Grenzen erklärte Indien im vergangenen Jahr zu einem der gefährlichsten Länder für Journalist*innen.            


„This Is the Biggest Crackdown on the Indian Press by the Indian State“ 

Ajoy Ashirwad Mahaprashasta, 5. Oktober 2023

Die Durchsuchungen bei NewsClick und die Verhaftungen führender Mitarbeiter lösten Befürchtungen aus, dass der kritische Journalismus vor den Parlamentswahlen 2024 zum Schweigen gebracht werden soll. NewsClick-Journalist*innen berichteten, dass die Polizei sie am 3. Oktober immer wieder danach fragte, warum sie über Themen berichteten, die Indien in einem schlechten Licht darstellen würden.

Ajoy Ashirwad Mahaprashasta, This Is the Biggest Crackdown on the Indian Press by the Indian State. The Wire, October 5, 2023


Witnessing the NewsClick raids, up close and personal

Taru Bhatia, 8. Oktober 2023

Bericht einer jungen NewsClick-Journalistin über die Razzien am 3. Oktober: Für ein Journalistin sei es eine verzweifelte, hoffnungslose Situation. 'Umso mehr, als wir jetzt wissen, dass sie auch Nachwuchskräfte und freie Mitarbeiter*innen nicht verschonen werden, wenn sie beschließen, gegen eine Nachrichtenorganisation vorzugehen’.

Taru Bhatia, Witnessing the NewsClick raids, up close and personal.Scroll.In, October 08, 2023


'Extent of Falsehoods Astounding': Farmers Launch Nationwide Protest Against Allegations

The Wire Staff, 9. Oktober 2023

In der Strafanzeige gegen den NewsClick-Herausgeber Purkayastha wird indirekt behauptet, dass die Samkyukt Kisan Morcha (SKM), der Zusammenschluss von mehr als vierzig indischen Gewerkschaften der Bäuerinnen und Bauern zur Koordinierung des gewaltlosen Widerstands gegen die im September 2020 erlassenen Agrargesetze, darauf abzielen würde, die Versorgung der Menschen mit lebenswichtigen Gütern zu unterbinden und die öffentliche Ordnung in Indien zu stören. Die Bewegung der Landwirt*innen wies diese Anschuldigung in einer Stellungnahme zurück. 

The Wire Staff, 'Extent of Falsehoods Astounding': Farmers Launch Nationwide Protest Against Allegations.The Wire, October 9, 2023


Voices Raised in Favour of NewsClick on a Large Scale in Punjab

Shiv Inder Singh, 11. Oktober 2023

Bäuerinnen und Bauern, Arbeiter*innen, Studierende, Menschenrechts- und Kulturorganisationen im Bundesstaat Punjab haben ihre Stimme gegen die von der Polizei in Delhi eingereichte Anzeige gegen NewsClick und zahlreiche mit dem Unternehmen verbundene Journalist*innen erhoben und dies als Angriff auf die Demokratie und die Meinungsfreiheit bezeichnet.

Shiv Inder Singh, Voices Raised in Favour of NewsClick on a Large Scale in Punjab. NewsClick, October 11, 2023


BJP Defaming Farmers' Movement, Will Appeal to People to Defeat it: SKM
Ravi Kaushal, 21. Oktober 2023

Bei einem Treffen der SKM am 20. Oktober appellierte die Kampagnen-Leitung an die Menschen, die BJP in fünf wahlentscheidenden Bundesstaaten abzuwählen. Die SKM kündigte an, dass die Bäuer*innen nach einer Kampagne auf Dorfebene im ganzen Land am 6. November Kopien der Strafanzeige gegen NewsClick verbrennen werden.

Ravi Kausha, BJP Defaming Farmers' Movement, Will Appeal to People to Defeat it: SKM.NewsClick, October 21, 2023


 


The D-Voters of Assam

Migrant*innen in Assam wird das Wahlrecht verweigert

The Wire, 28. September 2023

Autoritarismus: Seit Jahrzehnten kämpfen Migrant*innen aus Bangladesh in Assam darum, Dokumente für die indische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Unter dem Vorwand, sie seien illegal eingewandert, stufte die indische Wahlkommission 1997 mehr als 100.000 Menschen als „fragwürdige“ (doubtful) Wahlberechtigte (D-Voters) ein und behielt ihnen damit das Stimmrecht vor. Jetzt hat der autoritäre Überwachungsstaat Mechanismen geschaffen, um „undokumentierte“ Migrant*innen im Land aufzuspüren. Zudem wurden Tribunale für „Ausländer*innen“, vor allem für bengalische Muslime eingerichtet, die dabei die Beweislast für die Staatsbürgerschaft tragen. Ziel der Maßnahmen ist es, ihnen die staatsbürgerlichen Rechte zu verweigern und sie letztlich zu internieren. Viele seit Jahrzehnten in Assam lebende Zugewanderte engagieren Rechtsbeistand, um die für die Beantragung der Staatsbürgerschaft notwendigen Dokumente zu besorgen. Das wiederum scheitert jedoch häufig daran, dass eine große Zahl von ihnen in Armut lebt und sich die hohen Verfahrenskosten nicht leisten kann. Die Exklusion auf staatsbürgerlicher wie auf wirtschaftlicher Ebene gehen Hand in Hand.

For 'Doubtful Voters' of Assam, Financial Precarity Makes Citizenship Quest Doubly Hard. In: The Wire, September 28, 2023

Siehe dazu die ausführliche Analyse Pushed into the fringes of Poverty: The D-Voters of Assam, Azaad Awaaz, Vol VII, Issue 1


 


Gesetz zur Frauenquote im indischen Parlament

Knapp 30 Jahre nach seiner Formulierung wurde das Gesetz zur Frauenquote im indischen Parlament verabschiedet. Es kann aber nicht die strukturelle Diskriminierung von Frauen auf dem Land, aus muslimischen und niedrigkastigen Gruppen sowie den grassierenden Sexismus beseitigen.                                                            Redaktionsnetzwerk Südasien, September 2023


The Women’s Reservation Bill: Contexts And Concerns

Banani Gosh, 22.09.2023

Feminismen: Am 22. September 2023 hat das indische Parlament mit Zustimmung der regierenden BJP ein Jahr vor der nächsten Wahl ein verfassungsänderndes Gesetz verabschiedet, durch das eine Quotierung von 33 Prozent für Frauen eingeführt wird. Ein derartiger Beschluss war seit 1996 mehrmals gescheitert, während eine Quotierung in politischen Institutionen auf lokaler Ebene seit 1994 praktiziert wird. Weil Frauen eine sehr heterogene Gruppe sind, fordern Muslima und Frauen aus rückständigen Kasten (OBC) eine Reservierung innerhalb der Quotenregelung, so wie es sie auch für Personen aus SC/ST (gelistete Kasten und „Stämme“) im Parlament gibt.

Banani Ghosh, The Women’s Reservation Bill: Contexts And Concerns. In: Feminism in India, September 2023

Why Do Rural Women Have Little To No Opportunity To Participate In Politics?

Mehwash Hussain, 08.09.2023

Feminismen: Das neue Quotengesetz ändert nichts an den vielen Hindernissen für politische Partizipation von Frauen, die auf der strikt patriarchalen dörflichen Ebene und durch Ausschluss von Bildung bestehen. Politisch aktive Frauen werden immer wieder auf Kochen und Kinder verwiesen und durch Internet-Trolle persönlich diskreditiert und attackiert.

Mehwash Hussain, Why Do Rural Women Have Little To No Opportunity To Participate In Politics? In: Feminism in India, September 8, 2023

We Appreciate Women In Politics, Especially If They Are Men: ‘Masculinised Ethos’ Of Kerala Politics

Shreya K Sugathan, 29.09.2023

Feminismen: Kerala gilt mit seiner Frauenquote von 50 Prozent für lokale politische Institutionen als progressiv in bezug auf politische Repräsentation von Frauen. Doch noch nie waren mehr als zehn Prozent Frauen im Parlament des Bundesstaats. Sexismus in allen Parteien und durch Internet-Trolle sind Alltag, während der bekannte Schauspieler Alencier Ley Lopez die echte Maskulinität politischer Führer feiert. Das neue Quotengesetz ändert dieses männliche Ethos in der Politik nicht. Nur Frauen, die sich an diese Spielregeln anpassen, haben überhaupt Chancen. Im gesellschaftlichen Bewusstsein muss sich vieles ändern, damit politische Partizipation tatsächlich zu einem kollektiven Empowerment führt.

Shreya K Sugathan, We Appreciate Women In Politics, Especially If They Are Men: ‘Masculinised Ethos’ Of Kerala Politics. In: Feminism in India, September 29, 2023


 


Pushed to the Limit: The Working Lives of India’s Freight Train Drivers

Zaen Alkazi, 25. September 2023

Arbeit und Arbeitskämpfe: Am 2. Juni 2023 stießen im ostindischen Bundessstaat Odisha zwei Personen- und ein Güterzug mit hoher Geschwindigkeit zusammen, 288 Menschen kamen dabei ums Leben. Es war das verheerendste Eisenbahnunglück in Indien seit 1995. Bei der Suche nach den Ursachen wurden die Arbeitsbedingungen der Arbeiter*innen der indischen Eisenbahngesellschaft, die die größte Belegschaft des öffentlichen staatlichen Sektors bilden, weitestgehend ignoriert. Seit drei Jahrzehnten ist die Anzahl der Beschäftigten der indischen Staatsbahn um ein Viertel zurückgegangen, während in dieser Zeit die Gesamtstreckenlänge um 18 Prozent ausgebaut wurde und sich die Anzahl der Waggons um 21 Prozent und die der eingesetzten Lokomotiven um 57 Prozent erhöht hat. Entsprechend haben die psychischen und physischen Belastungen von Lokomotivführer*innen, besonders im Güterverkehr („Loco pilots“) enorm zugenommen durch Ausdehnung der Arbeitszeiten, häufige Nachtschichten und eine Verringerung der Ruhephasen zwischen den Schichten. Während die Lokführer*innen somit an ihre Belastungsgrenzen (und darüber hinaus) getrieben werden, um den Abbau der Belegschaft auszugleichen, werden gleichzeitig keine neue Bewerber*innen eingestellt.

Zaen AlkaziPushed to the Limit: The Working Lives of India’s Freight Train Drivers. In: The Wire, September 25, 2023


Repression gegen Dalits und Adivasi im sogenannten Bauxit-Gürtel von Odisha

5. September 2023

Die indischen Sicherheitsbehörden haben im August Razzien gegen Dalit- und Adivasi-Gemeinschaften in verschiedenen geplanten Bergbaugebieten im Süden Odishas durchgeführt und Aktivist*innen unter anderem unter dem drakonischen Gesetz zur Verhinderung rechtswidriger Aktivitäten (UAPA) verhaftet. Der bekannte Sozial- und Umweltaktivist Prafulla Samantara soll am 29. August aus seinem Hotelzimmer entführt worden sein. Hintergrund der Repressionswelle dürfte auch das am 26. Juli 2023 vom indischen Parlament verabschiedete Forest (Conservation) Amendment Bill 2023 sein. Die Änderungen stellen einen direkten Verstoß gegen die Rechte der Adivasi, die von den Wäldern leben, dar, die ihnen im Rahmen des Forest Rights Act von 2006 gewährt wurden. Danach kann eine Umwidmung von Waldland nur mit Genehmigung der lokalen Gemeinschaften durch ihre Dorfgemeinderäte erfolgen. Diese Bedingung entfällt nun.

Himanshi Dahiya: Inside Odisha's Crackdown on Adivasis: Bauxite Mining, UAPA, and Forest Act, in: The Quint, September 5, 2023

Hunderte bekannter Aktivist*innen, Bürger*innen- und Volksorganisationen aus ganz Indien äußerten in einem offenen Brief an den Ministerpräsidenten von Odisha ihre Empörung über die UAPA-Verfahren gegen Adivasi und Aktivist*innen.

National Alliance of People's Movement/NAPM: UAPA cases on Niyamgiri adivasis und activists invites national outrage, in: Countercurrents, August 24, 2023


Brutale Räumen einer gandhianischen Bibliothek

National Alliance of People’s Movements (NAPM), Press release, 13. August 2023

Am 12.August 2023 wurden die Gebäude der gandhianischen Organisation Sarva Seva Samiti nahe der nordindischen Pilgerstadt Varanasi in einer brutalen Aktion zerstört. Den Bulldozern fiel auch die sechs Jahrzehnte alte Bibliothek zum Opfer, die 10.000 Bücher zum Gedankengut von Mahatma Gandhi, Acharya Binoba und Jayprakash Narayan enthielt. Trotz einer großen Protestveranstaltung am Vortag gegen die repressive BJP-Politik in den Bundesstaaten Uttar Pradesh und Haryana und einer ausstehenden Entscheidung des zuständigen Gerichts schickte die Regierung von Uttar Pradesh die Bulldozer, um diese wichtige Quelle für die politische Geschichte Indiens platt zu machen.

In: Countercurrents, August 2023


Indien
How India’s Data Protection Law Weakens Citizens’ Right to Information

Himanshu Jha, 12. August 2023

Autoritarismus: In der zweiten August-Woche verabschiedete das indische Parlament ein Gesetz, dass dem Namen nach dem Datenschutz dienen soll. Vordergründig soll mit dem Digital Personal Data Protection Bill der Datenmissbrauch durch große Hightech-Unternehmen unterbunden werden. Datenschutz- und Menschenrechtsorganisationen befürchten allerdings, dass dadurch der Schutz der Privatsphäre und das Recht auf Information ausgehöhlt werden. Das 2005 verabschiedete bahnbrechende Right to Information-Gesetz (RTI Act) habe mit einigem Erfolg die Un-Kultur der Intransparenz und Korruption von Behörden und mächtigen Interessengruppen durchbrochen, schreibt Himanshu Jha, doch dieser Fortschritt und damit die Demokratie seien jetzt in Gefahr. Bereits 2021 setzte die Regierung Modi weitreichende Regulierungen durch, um soziale Medien und digitale Plattformen direkt unter ihre Kontrolle zubringen, was nach Auffassung von Kritikern zu einer Online-Zensur in Indien führen kann.

Himanshu Jha, How India’s Data Protection Law Weakens Citizens’ Right to Information. In: The Diplomat, August 12, 2023

Siehe dazu auch das Dossier: Digital Security threatens Digital Rights


Gewalt in Manipur

Redaktionsnetzwerk Südostasien, Juli 2023

Seit Anfang Mai tragen verschiedene Ethnien im nordöstlichen indischen Bundesstaat Manipur ihre Konflikte mit brutaler Gewalt aus. Anlass war, dass die Bevölkerungsmehrheit der Meitei, vorwiegend in den Tälern lebende Hindus, ebenso wie die beiden Ethnien der Kuki und Naga, die in den Bergen wohnen und mehrheitlich Christen sind, in das indische Quotensystem (‚Reservation system’) aufgenommen werden wollen. Das würde ihnen feste Anteile bei Regierungsjobs, im Parlament und im Bildungssystem sichern. Mindestens 160 Personen haben bisher ihr Leben verloren, 400 Kirchen sollen zerstört und 50.000 Christinnen und Christen vertrieben worden sein. Die Regierung in Delhi schweigt zu den Ereignissen, hat aber tausende Soldaten in die Region geschickt. Inzwischen wird aber auch heftig gegen die eskalierende Gewalt protestiert, unter anderem von Frauen.                         

Siehe dazu: Dossier: Krisenherd Nordostindien

Nationwide Outcry against regressive Forest Conservation Amendment Bill

National Alliance of People’s Movements, Press release, 25. Juli 2023

Eine geplante Ergänzung zum nationalen Waldschutzgesetz (Forest Right Act, 2006) ruft in 16 indischen Bundesstaaten heftige Proteste von Klima- und Waldaktivist*innen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Wissenschaftler*innen hervor. Obwohl in indischen Städten die Temperaturen ins Unerträgliche steigen, sollen durch das neue Gesetz große Waldflächen freigegeben werden, um „Entwicklungs- und Sicherheitsprojekte von nationaler Bedeutung“ durchzuführen. Das betrifft insbesondere Regionen, in denen Adivasi leben, die Bergkette der Western Ghats (einschließlich Goa) und Gebiete im Nordosten, deren Reichtum an biologischer Vielfalt und deren Bedeutung als wichtige CO2-Senken dadurch bedroht sind.

National Alliance of People’s Movements, Press release, July 25, 2023


The Gig Economy in India
Unveiling the Exploitation of Workers

Arbeit und Arbeitskämpfe: Die Zeitschrift Azaad beschäftigt sich im aktuellen Heft (Juli 2023) mit der Plattform-(Gig)-Ökonomie in Indien. Deren schneller Aufstieg seit der Finanzkrise 2008 und weiter beschleunigt durch die Covid-Pandemie bietet derzeit schätzungsweise acht Millionen Menschen, vorrangig Männern, Beschäftigung im informellen Sektor, von der Essensauslieferung über die Textproduktion bis zur Software-Entwicklung. Dem liegt ein ebenso breites Spektrum von algorithmengesteuerter Ausbeutung und digitalisierter Geringentlohnung zugrunde. Die Plattformen gelten als demokratisierte Ökonomie mit niedrigschwelligem Zugang und bieten vielen jungen Leute, die das Land und die Landwirtschaft verlassen, Arbeitsmöglichkeiten. Ihre Beschäftigung (formal gelten sie als Selbstständige) findet in einer Grauzone zwischen formellem und informellem Sektor statt. Das bedeutet Dumpinglöhne, digitale Überwachung, Vereinzelung, Flexibilisierung und Unsichtbarkeit, aber keine soziale Sicherheit. Für Frauen gibt es zusätzliche Probleme wie kein Zugang zu sanitären Anlagen, kein rechtlicher Schutz gegen sexuelle Gewalt und geringere Bezahlung als Männer.The Gig Economy in India: Unveiling the Exploitation of Workers

The Gig Economy in India: Unveiling the Exploitation of Workers, Azaad Awasz, Volume VII, Issue 1, Juli 2023


Forms of Oppression Can Intertwine
No One Knows This Better Than India's Lesbian Population

R.Raj Rao, 6. Juli 2023
Buchbesprechung von K. Vaishali, Homeless: Growing Up Lesbian and Dyslexic in India

Queer: K.Vaishali verwebt in ihrem Buch ihre Autobiographie als nicht-heterosexuelle Frau mit Fiktion und einem Rückblick auf LGBTIQ in der indischen Kulturproduktion und schafft damit eine Queer-Ästhetik. Seit 2018 LGBTIQ-Sexualitäten in Indien dekriminalisiert wurden, spielen nicht-heteronormative Identitäten in Literatur und Film wie auch im akademischen Bereich eine prominente Rolle. Doch lesbische und queere Literatur hatten schon immer mit vielen Vorurteilen zu kämpfen, seit 1942 die Urdu Schriftstellerin Ismat Chughtai in ihrer Erzählung „The Quilt“ zwei Frauen wie einen Elefanten unter einer Decke beschrieb. Viel auflagenstärker war dagegen schwule Literatur. Häufig wurden Lesben „kuriert“ und in eine heterosexuelle Beziehung geschleust (besser: gezwungen???). Eigene Erfahrungen von Vaishali korrespondieren mit der Literatur, z.B. das Motiv der Mutter, die die lesbische Tochter ablehnt und straft. Für Vaishali war das Schreiben Selbstvergewisserung und Therapie an der Schnittstelle zwischen Sexualität, Kaste und körperlicher Einschränkung.

K. Vaishali, 2023. Homeless: Growing Up Lesbian and Dyslexic in India, Simon & Schuster and Yoda Press


Humor im Hindunationalismus
Modi ist der Witz, den Inder*innen nicht kapieren dürfen

Rosamma Thomas, Juni 2023

Autoritarismus: Komik, Ironie und Satire spielten immer schon eine große Rolle bei der Gesellschaftskritik in Indien. Traditionelle und moderne Kunstformen verstanden es, den Menschen Mut zu machen und sich gegen staatliche Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung zu wehren. In schwierigeren Zeiten stiften Künstler*innen Humor und Reflexion. Unter der hindunationalistischen Regierung von Premierminister Narendra Modi nehmen Angriffe und Hasskampagnen gegen Oppositionelle, kritische Medienarbeiter*innen, Stand-up-Comedians und Karikaturist*innen zu.                                Jörn Große-Rövekamp und Jean Donauer

In: iz3w 396, Mai / Juni 2023, 37-39. Der Originaltext vom 22. Juni 2022 wurde aus dem Englischen übersetzt von Jörn Große-Rövekamp.

Die Schriftstellerin und freiberufliche Journalistin Rosamma Thomas ist Teil des Projekts „Cultural Resistance in Times of Rising Authoritarianism in India: A Dossier“, das die Vielfalt kultureller Widerstandsformen in Indien gegen die autoritäre Wende aufzeigt. Bisher sind zehn Beitrage erschienen, darunter über eine Folk Rock-Band im ostindischen Manipur, über Kulturgruppen in Maharashtra, die gegen das Kastensystem aktiv sind, und die vielfältige Protestkultur der monatelangen Blockade der Hauptstadt Delhi durch Bauern vor zwei Jahren.


Breite Proteste gegen sexualisierte Gewalt im Ringerverband

Mai/Juni 2023

Feminismen: Seit Januar 2023 protestieren mehrere indische Ringer*innen, die olympische Medaillen gewonnen haben, gegen die sexuelle Gewalt, die ihnen jahrelang von dem Präsidenten des indischen Ringerverbands Brijbhushan Sharan Singh angetan wurde. Singh ist auch Parlamentsabgeordneter der BJP. Während Premierminister Modi zu den Vorwürfen schweigt, erfahren die Ringer*innen Solidarität von unterschiedlichen Seiten. So von Frauen, die die Ringerinnen als Pionierinnen einer selbstständigen Lebensweise, die ihren Erfolg vor allem sich selbst verdanken, feiern, und von Aktivist*innen aus der Bäuer*innenbewegung von 2020, weil die Polizei sich wieder einmal weigert, Anzeigen aufzunehmen.

Why the wrestlers’ protest matters so much to the sisterhood of working women
von Shrayana Bhattacharya, in: Times of India, June 3, 2023. In: Times of India

Indian farmers break down barricades to join protesting wrestlers
Al Jazeera, May 8, 2023


Indien: IT Rules on Fact-Checking Tantamount to Censorship of Press

Indian Newspaper Society, 14. April 2023

Auch in Indien werden IT-Regeln genutzt, um Zensur auszuüben. Die Information Technology Rules geben einem von der Regierung bestellten Komitee die Macht zu entscheiden, was ‚Fake news’ sind, was falsch oder irreführend ist. Die Indian Newspaper Society (INS) kritisiert, dass die Regeln ohne jegliche Konsultation mit der Presse eingeführt wurden und ein Mittel sind, die Meinungsfreiheit einzuschränken.

In: The Wire, April 14, 2023


Protests in Karnataka Over New Reservation Policy Ahead of State Polls

B.S.Arun, 28. März 2023

Autoritarismus: Die BJP-Regierung des südindischen Bundesstaats Karnataka hat die Reservierungsquote für Muslime aufgehoben. Ihr bisheriger Anteil von vier Prozent wurde zwei großen Kastengruppen in Karnataka, den Lingayats und Vokkaligas, zugeschlagen, während sich Muslime jetzt die Reservierungsquote von zehn Prozent für die wirtschaftlich schwächsten Gruppen, denen sie zugeordnet wurden, teilen müssen. Musleme sind eindeutig die Verlierer dieser Maßnahme. Diese neue Quotenpolitik im Vorfeld der nächsten Wahlen in Karnataka ist ein Beispiel dafür, wie die Anti-Islamisierung Schritt für Schritt politisch umgesetzt wird und Hindu-Gruppen von der BJP umworben werden.

B.S.Arun, Protests in Karnataka Over New Reservation Policy Ahead of State Polls. In: The Wire, March 28, 2023


Staatlich geförderte hinduistische Tempelwirtschaft

Pushpa Sundar, 7. März 2023

Autoritarismus: In der Verfassung ist verankert, dass Indien ein säkularer Staat ist. Doch zunehmend setzten BJP-Regierungen Haushaltsmittel für die Förderung religiöser Einrichtungen ein, wie jüngst die Regierung des Bundesstaates Karnataka. Das wirft Fragen nach der Vereinbarkeit mit der Verfassung, der fehlenden Gleichbehandlung der unterschiedlichen Religionen und der Bekämpfung der Armut auf.

Pushpa Sundar, What the Karnataka Govt's Rs 1,000-Crore Temple Grant Says About Secularism in Indiai. In: The Wire, March 7, 2023. Deutsche Übersetzung (leicht gekürzt und mit Anmerkungen versehen)

Siehe dazu auch: Irfan Engineer and Neha Dabhade, Bulldozers, Discriminatory Laws and Demonization of Minorities: Communal Violence 2022 – Part III, Center for Study of Society and Secularism, CSSS, 2022.

Dieser Bericht über "symbolische Gewalt" in Indien, der nachzeichnet, wie die rechte Hindu-Ideologie durch Finanzierung von Hindu Tempeln und Symbolen, Hassreden, sozialen und Wirtschaftsboycott und Umbenennung von Orten, deren Name die islamische Herkunft signalisiert, öffentliche Diskurse beeinflusst, ist der dritte Teil einer Serie 'Bulldozers, Discriminatory Laws and Demonization of Minorities: Communal Violence 2022'über unterschiedliche Formen von Gewalt gegen religiöse Gemeinschaften und soziale Minderheiten. Die beiden anderen Texte analysieren "direkte physische Gewalt" und "strukturelle Gewalt".


‘Seminal issue’: Same-sex marriage pleas

14. März 2023

Feminismen/Queer: Mehrere gleichgeschlechtliche Paare stellten eine Petition, dass der indische Staat ihre Ehe anerkennen sollte. Doch obwohl die Heirat gleichgeschlechtlicher Paare in Indien entkriminalisiert ist, verweigert die Regierung vor dem Obersten Gerichtshof die Legalisierung dieser Eheschließungen. Begründung: Diese Ehen würden dem indischen Konzept von Familie widersprechen, das zutiefst heterosexuell sei. Auch wenn homosexuelle Ehen in der Alltagsrealität bestehen, will der Staat sie nicht formal anerkennen. Wegen der bahnbrechenden Bedeutung für die Gesellschaft hat der Oberste Gerichtshof die Entscheidung jetzt an ein fünfköpfiges Gremium von Verfassungsrichtern verwiesen.

‘Seminal issue’: Five judge Supreme Court bench to hear same-sex marriage pleas. In: Times of India, March 14, 2023


‘It is better to die than live with no hope’
Inside India’s largest detention centre

Rokibuz Zaman, 7. März 2023

Autoritarismus: In Indiens größtem Auffanglager für "illegale Einwanderer*innen", in Matia in Assam, sind derzeit "Ausländer" sowie 300 Personen untergebracht, die im Rahmen des staatlichen Vorgehens gegen Kinderheirat festgenommen wurden. 69 Inhaftierte wurden von den Ausländergerichten Assams, quasi-richterlichen Gremien, die über Fragen der Staatsangehörigkeit in diesem Bundesstaat entscheiden, zu „illegalen Migrant*innen“ erklärt. Hintergrund ist das neue Staatsbürgerschaftsgesetz von 2019 (Citizenship Amendment Act) und das Nationale Bürger*innenregister, das die Aufgabe hat, eingewanderte Muslime als nicht-indische Bürger*innen auszusondern und abzuschieben. Auf Anordnung des Obersten Gerichtshofs wurden in Assam erstmals 2009 Haftanstalten für die Inhaftierung von als Ausländer deklarierten Personen errichtet. Die BJP-Regierung stellte 2018 erhebliche Geldmittel zur Verfügung und unterstützte den Bau eines großen Zentrums in Matia, in dem rund 3.000 Häftlinge untergebracht werden sollen. Die Reportage beleuchtet die Willkür der Inhaftierungen und die miserablen Haftbedingungen der in Matia eingesperrten Frauen, Männer und Kinder.

Rokibuz Zaman, Inside India’s largest detention centre: ‘It is better to die than live with no hope’. In: scroll.de, March 7, 2023


Public Statement by Indian Peoples Movements, Trade Unions and Other Civil Society Groups on G20

März 2023

Die indischen sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und andere zivilgesellschaftliche Gruppen, die dieses Statement vorgelegt haben, betrachten die G20, deren Vorsitz in diesem Jahr Indien hat, als exklusiven Club der Reichen und Mächtigen zur Stabilisierung neoliberaler Politiken und Rettung der globalen (Finanz-)Märkte. Das Modi-Regime benutzt diese dramatische Situation einer Mehrfachkrise, um sich nach innen vor den nächsten Wahlen als weltpolitischer Akteur zu profilieren und international das Image als größte Demokratie und größte Diversität der Welt aufzupolieren. Zum indischen Autoritarismus, der Verletzung von Menschenrechten, mangelnder Pressefreiheit, der rücksichtslosen Durchsetzung von großen Infrastrukturprojekten und wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten schweigt die G20. Arme und marginale Bevölkerungsgruppen haben keinerlei Einfluss auf die Themen und Entscheidungen der G20, aber kämpfen jenseits der Schönfärberei durch die indische Regierung weiter für demokratische, sozial und umweltgerechte Ökonomien und Gesellschaften.

Presse-Erklärung, in: Countercurrents, March 3, 2023


Indien: Online-Gewalt gegen kritische Journalistin

Global Voices, 16. März 2023

Autoritarismus: Rana Ayyub, Kolumnistin der Washington Post und eine der prominentesten unabhängigen Journalistinnen Indiens, war online täglich mit umfangreichen Drohungen, Belästigungen und Beschimpfungen konfrontiert. die von einer Armee von Trollen ausgehen.

Diese offen sexistische und mit Desinformationen gespickte Kampagne wird von „Lynchmobs“ getragen, die sich mit Indiens hindu-nationalistischer Regierungspartei identifizieren. Im Fall von Rana Ayyub bewegen sie sich an der Schnittstelle von muslim- und frauenfeindlicher Bigotterie, denn sie wurde wegen ihres muslimischen Glaubens attackiert und als "Dschihadistin" und "Terroristin" bezeichnet. Die Angriffe werden auch von regierungsnahen Boulevard-TV-Sendern und Propaganda-Websites geführt, die sich als Nachrichtenagenturen ausgeben und die kritische Berichterstattung von Rana Ayyub als Beweis für ausländische Einflussnahme und für ihre Illoyalität gegenüber Indien darstellen. Ihr Fall ist symptomatisch für die Verfolgung von Journalistinnen in Indien und der Region.

Online gender-based violence: A tool of digital authoritarianism in India. In: Global Voices, March 16, 2023

Siehe dazu auch die Studie des International Centre for Journalists (ICFJ), Rana Ayyub. Targeted online violence at the intersection of misogyny and islamophobia. February 14, 2023. Nach einer detaillierten Darstellung der Angriffe geht sie auch auf Hintergründe ein wie die Aushöhlung der Pressefreiheit in Indien unter der Regierung Modi und die Aufforderung von UN-Experten, Journalist*innen wie Rana Ayyub vor derartigen Angriffen zu schützen.


Hinweise auf drei Texte zu Queer und Quoten in Indien

Redaktionsnetzwerk Südasien, 20. Februar 2023

SC again backs appointment of openly gay advocate as Delhi HC judge

Queer: Die Regierung lehnt es seit über fünf Jahren ab, den erfahrenen und offen über seine homosexuelle Orientierung sprechenden Juristen Saurath Kirpal als Richter am Delhi High Court zu bestellen, und setzt sich damit über eine entsprechende Empfehlung des Obersten Gerichtshofs hinweg. Die offizielle Begründung: Geheimdienstliche Bedenken gegen Kirpals Partner, den Schweizer Menschenrechtsaktivisten Nicholas German Bachmann. Zwar werden homosexuelle Ehen in Indien nicht anerkannt und Homosexualität gilt in Teilen der indischen Gesellschaft noch als großes Tabu, aber durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs in Neu-Delhi von 2018 wurden homosexuelle Beziehungen mittlerweile entkriminalisiert.

SC again backs appointment of openly gay advocate as Delhi HC Judge. In: Times of India, January 20, 2023


Women’s Reservation Bill Is Not A Joke! Examining The Need For Quotas Within The Quota

Kanchana Yadav, 25. Januar 2023

Feminismen:Trotz aller Versprechen zu Geschlechtergleichheit wartet das Gesetz zu einer Quotenregelung im Parlamentseit 26 Jahren auf seine Verabschiedung. 33 Prozent der Sitze sollen für Frauen reserviert werden. Fünf Mal scheiterte das Gesetz daran, dass keine zusätzliche Quotierung für Frauen aus unteren Kasten und gesellschaftlichen Minderheiten vorgesehen war. Doch daran führt kein Weg mehr vorbei.

Kanchana Yadav, Women’s Reservation Bill Is Not A Joke! Examining The Need For Quotas Within The Quota. In: Feminism in India, January 25, 2023


How India’s caste system limits diversity in science

Ankur Paliwal, 11. Januar 2023

Kastengesellschaft: Trotz der Quotenregelungen für Adivasi und andere marginalisierte Kastengruppen, die Dalits, sind Spitzenpositionen in Forschung, Wissenschaften und Technologien immer noch von den privilegierten Kasten und Klassen besetzt. Die Studie liefert umfangreiches Zahlenmaterial dafür. So sind zwar auf Promotionsebene immerhin zehn Prozent Dalits, aber nur zwei  Prozent Adivasi vertreten. Danach schrumpft die Diversität sozialer Herkunft in den wissenschaftlichen Eliteinstituten dramatisch: Weniger als ein Prozent aller Professor*innen sind Dalits oder Adivasi. Um das zu ändern, müssen Unterstützungsstrukturen im gesamten Bildungssystem für die benachteiligten Gruppen geschaffen werden, denn bislang besteht für sie keine Chancengleichheit.

Ankur Paliwal, How India’s caste system limits diversity in science. In: Nature, January 11, 2023



Bharat Jodo Yatra: Marsch für Einheit

Redaktionsnetzwerk Südasien, 17. Februar 2023

Mitte September vergangenen Jahres brach Rahul Gandhi, vorübergehend Präsident der Congress-Partei, zu einem langen Marsch (Yatra) von Kerala im Süden des Landes nach Kaschmir im Norden auf. Die Organisator*innen erklärten, diese Yatra, die an ähnliche Märsche von Mahatma Gandhi erinnern sollte, sei nicht parteipolitisch motiviert, sondern solle „Indien vereinen“ („Bharat Jodo“) und die Spaltung durch die hindu-fundamentalistische Politik überwinden. Sie hofften dabei, eine breite Unterstützung durch zivilgesellschaftliche Gruppen und säkulare politische Organisationen zu mobilisieren. Der Marsch endete nach 150 Tagen Ende Januar. Die folgenden Beiträge ziehen Bilanz: Shivasundar, ein Aktivist aus Karnataka, fasst einige Überlegungen und Erwartungen zu Beginn der Yatra zusammen, der Politikwissenschaftler Dhruv Janssen-Sanghavi fragt, wie sich Bestrebungen zu Einheit, Solidarität und Rechenschaftspflicht politisch umsetzen lassen, eine Reportage von Avani Bansal nimmt die Beteiligung von Frauen in den Blick. Sowie ein Appell von über 80 zivilgesellschaftlichen Organisationen, welche innovativen, grundlegenden Alternativen zum bestehenden politischen und wirtschaftlichen System die Yatra thematisieren müsste, um politisch relevant zu werden.

Shivasundar, What the 'Bharat Jodo Yatra' Is, Isn't and Should Be. In: The Wire, September 12, 2022

Vikalp Sangam Core Group, Appeal to Bharat Jodo Yatra, December 7, 2022

Avani BansalWhere Are the Women? Field Notes From the Bharat Jodo Yatra. In The Wire, January 15, 2023.

Dhruv Janssen-SanghaviWhat Does it Really Mean to 'Unite' a Country Like India? In: The Wire, February 8, 2023


 


Der Kampf der ITI-Arbeiter*innen

Suryashekhar Biswas & Sachi, Januar 2023

Arbeiter*innen der Indian Telecommunication Industries Ltd. (ITI) befinden sich seit dem 1. Dezember 2021 in Bangalore in einem Streik. Sie protestieren gegen ihre willkürliche Entlassung nach der Gründung einer Gewerkschaft und fordern ihre grundlegenden Rechte ein, wie die Gleichbehandlung von Arbeiter*innen aus marginalisierten Kasten und faire Löhne. Die Situation der Arbeiter*innen ist so prekär, weil sie Vertragsarbeiter*innen bzw. Leiharbeiter*innen sind.

Suryashekhar Biswas & Sachi, The Struggle of ITI-Workers. Der Beitrag erschien am 4. Januar 2023 auf Countercurrents. Deutsche Übersetzung


What It Truly Means To Be A Woman Farmer In Punjab? 

Mapping the notion of women farmers in the state vis-a-vis land ownership, agricultural work and their presence in the protests

Novita Singh, 16. Januar 2023

Je mehr die Landwirtschaft von Märkten und Profitmachen bestimmt wird, desto mehr wurden Bäuerinnen an den Rand gedrängt. Zunächst verloren viele durch die Grüne Revolution ihre Jobs. Ihre zunehmend untergeordnete Rolle in der Landwirtschaft ist nicht einfach eine Frage geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, sondern patriarchaler Machtzuteilung. Sie fühlen sich unter einer doppelten "Versklavung": durch den Staat und durch das Patriarchat: beide verweigern ihnen ihre Rechte, zum Beispiel an Land. Deshalb beteiligten sich Frauen in großer Zahl an den Bäuer*innenkämpfen 2020/21. Sie realisierten, dass die neuen Landwirtschaftsgesetze die Interessen von Großunternehmen und nicht der lokalen kleinen Farmer*innen begünstigen und Frauen erneut Verlierer*innen sein würden. Doch die Bauerngewerkschaften sind immer noch männerdominiert und ignorierten die Forderung der Bäuerinnenorganisation MAKAAM, Frauen in das Organisationskomitee der Proteste aufzunehmen. MAKAAM kämpft weiter für die Anerkennung von Frauen als Bäuerinnen und für Landbesitz, der die Grundlage für viele Rechte wie Kreditvergabe und Qualifizierung ist.

Novita Singh, What It Truly Means To Be A Woman Farmer In Punjab? In: Feminism in India, January 16, 2023


Kontroverse zu GMOs in Indien

Redaktionsnetzwerk Südasien, Dezember 2022

Seit Jahrzehnten ist die Einführung genmanipulierter Pflanzen in der Landwirtschaft heftig umstritten, besonders in Indien, wo die Suizide von tausenden verarmter Kleinbauern auf die Verschuldung im Zusammenhang mit der Einführung gentechnisch veränderter Baumwolle (Bt-Cotton) zurückgeführt werden. Aktuell gibt es einen heftigen Streit über die Freigabe einer gentechnisch veränderten Senfsorte und damit der ersten Nahrungsmittelpflanze für den kommerziellen Anbau. Himanshu Nitnaware hat für Down to Earth die Geschichte der Zulassung des GMO-Senfs mit der kürzlich überraschend schnellen Feststellung der Umweltverträglichkeit und der Freigabe für Feldversuche nachgezeichnet. Nicht nur Imker protestierten gegen die Zulassung, sondern GMO-kritische Organisationen fragen erneut grundsätzlich, ob Indien überhaupt genmanipulierte Senfölpflanzen braucht.

Über die Freigabe ist auch ein heftiger Streit zwischen der Regierungspartei BJP und ihrer militanten Basisorganisation RSS beziehungsweise den ihr nahestehenden Bäuer*innenorganisationen Swadeshi Jagaran Manch (SJM) und Bhartiya Kisan Sangh (BKS) entbrannt. Diese Entscheidung habe die gesamte Agrarwelt schockiert, schreibt Indra Shekhar Singh in The Wire. Im Gegensatz zur Behauptung des Wissenschaftlers, der die Sorte entwickelt hat, handelt es sich dabei nicht um einen nationalen (‚swadeshi’) Erfolg, vielmehr wurde dafür patentierte Technologie des Gentech-Giganten Bayer eingesetzt.

Wie umstritten das Thema ist, zeigt die Klage gegen die jüngst von der Regierung beschlossene Einführung von genmanipulierten Senfpflanzen vor dem Obersten Gerichtshof. Bharat Dogra von der Kampagne Save Earth Now fasst in seinem Beitrag die Gründe für die Klage zusammen wie zum Beispiel die Risiken der genetischen Kontamination der Biodiversität und die Umweltrisiken wie die mögliche Vergiftung von Wasser, Nutztieren und wilden Pflanzen.

Um die Kontroverse einzuordnen, sei hier noch einmal an frühere Auseinandersetzungen um GMOs zwischen Bäuer*innenorganisationen erinnert. Trotz Verbots begannen Landwirte, eine herbizid-resistente Sorte von gentechnisch veränderter Bt-Baumwolle (HTBt-Baumwolle) anzupflanzen. Die Organisation Shetkari Sanghatana, die 1979 mit dem Slogan “Freedom of access to markets and to technology” gegründet worden war, rief 2019 eine Bewegung zivilen Ungehorsams (‘satyagraha’) à la Gandhi aus, um einen Dialog über wissenschaftliche Innovation und Landwirtschaft anzustoßen.

Himanshu Nitnaware, Does India really need GM mustard. In: Down to Earth, December 11, 2022

Indra Shekhar Singh, Keen on GM Mustard, Government Plays Tug-of-War With RSS. In: The Wire, December 14, 2022

Bharat Dogra, Threat of Genetic Contamination Highlighted in Supreme Court of India. In: Countercurrents, December 4, 2022

Sukanya Shantha, With 'GM Satyagraha', Maharashtra Farmers Want Public Dialogue About GM Crops. In: The Wire, July 7, 2019


Indien
Data Protection Bill Fosters State Surveillance

Human Rights Watch, 22. Dezember 2022

Autoritarismus: Der Entwurf für ein neues Datenschutzgesetz (Digital Personal Data Protection Bill) ist der jüngste Versuch der von der Bharatiya Janata Party (BJP) geführten Zentralregierung, Indiens erstes Gesetz zum Schutz persönlicher Daten zu beschließen. Ein früherer Vorstoß, der im Dezember 2019 im Parlament eingebracht worden war, wurde im August 2022 fallengelassen. Die Bedenken von Parlamentarier*innen der Opposition, Technologieunternehmen und Advocacy-Gruppen gegen die frühere Gesetzesvorlage werden vom jetzt vorgelegten Entwurf nicht berücksichtigt. Die Regierung sollte daher den Vorschlag überarbeiten, um den Schutz der Privatsphäre vor einer unkontrollierten staatlichen Überwachung sicher zu stellen, erklärte Human Rights Watch, eine öffentliche Beratung durchführen und die Vorschläge zivilgesellschaftlicher Gruppen und Experten für digitale Rechte einarbeiten.

India: Data Protection Bill Fosters State Surveillance. Draft Law Fails to Protect Privacy, Rights of Children. HRW, December 202




50 Jahre Chipko: Dorfbewohner*innen in Uttarakhand
beschreiben, wie sich ihr Leben verändert hat

Varsha Singh, 30. November 2022

Soziale Bewegungen: 2023 jährt sich zum 50sten Mal der Beginn der Chipko-Bewegung in den Dörfern Uttarakhands. Damals inspirierte das Bäume-Umarmen der Dorffrauen den Umweltaktivismus in Indien und die Entwicklung theoretischer und praktischer Konzepte des Ökofeminismus. Heute zwingt der Klimawandel die Menschen in der Region, in der Indiens bekannteste Umweltbewegung begann, ihr Land zu verlassen. Die Erfolge von damals fallen den aktuellen Überschwemmungen zum Opfer.

Varsha SinghChipko 50 years on: Uttarakhand villagers describe how life has changed. In: The Third Pole, November 30, 2022. Deutsche Übersetzung

Weitere Texte zur Chipko-Bewegung und ihrer historischen Bedeutung

The origin and legacy of Chipko Movement

Anupam Bhandari, 8. April 2022

Die Chipko-Bewegung ist eine der bekanntesten Basisbewegungen in Indien und war 1973 eine Inspiration für spätere Initiativen, die eine Art Umweltrevolution in Indien auslösten. Der Ausgangspunkt war eine Kampagne zur Rettung der Bäume in der Himalaya-Region von Uttarakhand, bei der Dorffrauen mit ihren Körpern die Bäume vor den Äxten der Holzfäller und der Verarbeitung zu Tennisschlägern schützten. Vor diesem Hintergrund beschreibt dieser Beitrag weniger bekannte Aktivitäten und Akteur*innen in der Phase 1977/78, die zum Erfolg der Chipko-Bewegung beigetragen haben. Dabei wird vor allem der zentrale Grundsatz der Bewegung beleuchtet, dass Ökologie nachhaltiges Wirtschaften bedeutet.

Anupam Bhandari, The origin and legacy of Chipko Movement. In: countercurrents, April 2022

Standing up for trees
Women's role in the Chipko Movement

Shobita Jain, 1984

Die bereits 1982 durchgeführte Studie betrachtet die Chipko-Bewegung als eine bedeutende Erfolgsgeschichte im Kampf um die Livelihood- und Nutzungsrechte von Frauen und um die Rolle von Frauen in der Forstwirtschaft und im Umweltschutz lokaler Gemeinschaften. Die kollektive Mobilisierung von Frauen in den Himalaya-Dörfern für die Erhaltung der Wälder führte zu einem Konflikt und Rollenbruch hinsichtlich ihres eigenen Status in der Gesellschaft. Die Frauen forderten, ebenso wie die Männer an den Entscheidungsprozessen beteiligt zu werden. Das führt zum Widerstand von Männern gegen die Einbeziehung der Frauen in die Chipko-Bewegung. Einerseits streben die Frauen nach einer Veränderung ihrer Stellung in der Gesellschaft, andererseits unterstützen sie eine soziale Bewegung, die sich dem Wandel, nämlich Entwicklung durch industrialisierte Ressourcennutzung, widersetzt.

Shobita Jain,Standing up for trees: Women's role in the Chipko Movement. In: Unasylva 146, 1984/4, Women in Forestry

50 years after Chipko environmental movement, India is ignoring its vital lessons

Ramachandra Guha, 27. März 2023

Auf die Chipko-Bewegung vor 50 Jahren folgte eine Reihe weiterer Basisinitiativen, die die Kontrolle der Gemeinschaften über Wälder, Weideland und Wasser forderten. Wissenschaftler*innen sind der Auffassung, dass sie Perspektiven für eine Neugestaltung der indischen Entwicklung aufzeigten: An Stelle des energie-, kapital- und ressourcenintensiven Wirtschaftsmodells, das Indien nach der Unabhängigkeit 1947 umsetzte, eine Entwicklung zu verfolgen, die stärker von unten nach oben gerichtet, gemeinschaftsorientierter und umweltverträglicher ist.

Ramachandra Guha, 50 years after Chipko environmental movement, India is ignoring its vital lessons. In: Scroll, March 2023

Das Buchkapitel 'The Chipko Movement' von Vandana Shivaim Buch Ecology and the Politics of Survival: Conflicts Over Natural Resources in India (1991) betont die von Sundarlal Bahuguna propagierten ökologischen Aspekte der Chipko-Bewegung gegenüber den ökonomischen.

Der Artikel von Ramachandra Guha fokussiert auf C.P. Bhatt, einen der wichtigsten (männlichen) Organisatoren der Bewegung für eine lokal nachhaltige, ökonomische Entwicklung, den er 2002 in The Hindu  publizierte.

Der Beitrag Remembering Chipko Movement: The Women-led Indigenous Strugglevon  Pallavi in Feminism in India (11.07.2019) analysiert die Mechanismen kollektiver Organisierung und Machtbildung.

Ein Jahr nach dem bahnbrechenden Erfolg:  Indische Bäuer*innen wollen ihre Proteste wieder aufnehmen

Snigdhendu Bhattacharya, 28.11.2022

Landwirtschaft und Bäuer*innenkämpfe: Die Bäuer*innenorganisationen, die die Modi-Regierung zu ihrer größten Niederlage gezwungen haben, gehen wieder auf die Straße und beklagen gebrochene Versprechen. Im Zentrum der aktuellen Proteste stehen Forderungen zu Mindestpreisen für landwirtschaftliche Produkte. Allerdings ist umstritten, ob diese allein die Situation aller Bäuer*innen entscheidend verbessern können.

Quelle: The Diplomat, 28. November 2022

Speak Up! Deutsche Übersetzung: Link


 


 


 


 


 

Can rich nations be held accountable for the pain caused to Maharashtra’s farmers by climate change?

Flavia Lopes and Nushaiba Iqbal, 04. November 2022

Wer ist verantwortlich für die Schäden, die durch den Klimawandel verursacht werden? Wie lassen sich die ökonomischen und die nicht-ökonomischen Schäden berechnen? Der Artikel erörtert diese Fragen am Beispiel der Verluste für die kleinbäuerliche Landwirtschaft im indischen Bundesstaat Maharashtra. Trockenregionen erleben jetzt erratische Regenfälle, die die Ernten zerstören. Länder des Globalen Südens und China fordern seit Jahren, dass die reichen Industrienationen bei den Vereinten Nationen einen Fond zur Entschädigung für verletzliche und durch Klimawandel stark geschädigte Länder bereitstellen.

Link: scroll, November 4, 2022


Enacting Climate Justice in India

Climate Justice Network, Presseerklärung, 04. November 2022

Im Vorfeld der COP27 in Sharm el-Sheikh, Ägypten, fordern indische Klimaaktivist*innen und Wissenschaftler*innen, die zum Climate Justice Network gehören, die indische Regierung auf, sozial gerechte Ansätze zum Klimaschutz und zur Klimaanpassung zu entwickeln. Dies ist von entscheidender Bedeutung, um das Leben und die Lebensgrundlagen der Gemeinschaften zu schützen, die die Hauptlast der Klimakrise tragen.

Link: Countercurrents, November 2022


Arbeit und Arbeitskämpfe

Redaktionsnetzwerk Südasien, November 2022

Arbeit und Arbeitskämpfe: Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) arbeiten mehr als 80 Prozent der indischen Arbeitskräfte informell. Informelle Arbeit findet sich sowohl in den traditionellen als auch in modernen Sektoren. Durch neuere Entwicklungen wie Digitalisierung und Plattformisierung verändern sich die Arbeitsformen und -verhältnisse und kommen neue Formen von Informalität und Prekarität hinzu. Der Zuwachs von informeller Arbeit im formellen Sektor beruht auf Vertrags- und Leiharbeit und zunehmender Auslagerung. Frauen arbeiten häufiger informell als Männer. Informell Arbeitende in verschiedenen Sektoren sind zunehmend organisiert. Sie kämpfen für eine rechtliche Absicherung ihrer Arbeit, den Einschluss in Mindestlohn- und Rentenregelungen und Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen. Eine Sammlung von Links, Texten und Podcasts stellt exemplarisch einige zentrale Sektoren informeller Arbeit dar.


Szenen aus Narela: Armut, Ungleichheit und eine willkürliche Lohnstruktur

Visual Storyboard Team, 30.10.2022

Arbeitsverhältnisse: Der Industriekomplex von Narela ist eine der größten Wirtschaftszonen in Asien, vollgepackt mit florierenden Kleinbetrieben. Er lebt ausschließlich von der Arbeit von Geringverdiener*innen, die kaum Einfluss auf ihre Bezahlung und Lebensbedingungen haben. Um Handel und Industrieproduktion zu liberalisieren, begann der indische Staat Anfang der 1990er Jahre mit der Umsetzung einer Reihe neoliberaler Wirtschaftsreformen nach dem Vorbild des Washington-Konsens. Dieser Liberalisierungsschub in einigen Sektoren öffnete zwar in der Zeit nach 1991 die Türen für ausländische Kapitalinvestitionen, doch der Staat war nicht frei von einer "Vereinnahmung" durch private Geschäftsinteressen in den Bundesstaaten und Provinzen. Ein näherer Blick auf die Industriekorridore in und um die nationale Hauptstadtregion Delhi und die Struktur der bestehenden Beschäftigungsmöglichkeiten veranschaulicht die strukturellen Schwächen des neoliberalen Pakts zwischen Staat und Arbeitnehmer*innen. Link


Die Fehler der Bahujan-Politik

Sunny Uke und Prashant Bhaware, 06. Oktober 2022

Kastengesellschaft: Dalit-Politik und -Organisationen spielen eine immer wichtigere Rolle in der indischen politischen Landschaft, unter anderem die 1984 als Interessenvertretung der Dalits gegründete Bahujan, die „Partei der Mehrheitsbevölkerung“, die zeitweise an Regionalregierungen beteiligt war. Angesichts der gegenwärtigen politischen Krise sehen die beiden Verfasser in einer Wiederbelebung der republikanischen Ideen von B.R. Ambedkar eine Chance für eine sozialistische
Rettung der säkularen Demokratie. Wir halten den Text für einen wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen politischen Diskussion der Dalits. Zentral ist seine Kritik an der Bahujan-Position, die auf eine Mehrheit innerhalb des Kastensystems abzielt, während Ambedkars Position die Überwindung des Kastensystems war. Für das bessere Verständnis wurde der Text in der Übersetzung leicht bearbeitet. Link                                                   Redaktionsnetzwerk Südasien


Krise des Bildungssystems

Redaktionsnetzwerk Südasien, Oktober 2022

Bildung: Das indische Bildungssystem, Schulen und Universitäten rutschen weiter in eine Krise ab. Einerseits findet personell und politisch eine Gleichschaltung mit der hindu-chauvinistischen Ideologie des Modi-Regimes statt, andererseits eine neoliberale Orientierung auf Privatisierung durch Sparmaßnahmen bei der Beschäftigung und Bezahlung von Lehrpersonal und durch stärkere finanzielle Belastung der Lernenden/Studierenden. Leidtragende der Bildungsdefizite ist die Generation von Schüler*innen und Studierenden, deren Bildung bereits wegen der Covid-Pandemie zu kurz gekommen sind. Im Folgenden sind einige Links  zusammengestellt, die eine Momentaufnahme des Bildungssektors vermitteln sollen. Link


Indien: Razzien gegen politische Anführer*innen und Aktivist*innen

India Justice Project, 26.September 2022

Autoritarismus: Das India Justice Project verurteilt die landesweiten Übergriffe und Razzien gegen systemkritische Organisationen, die die Rechte von Muslim*innen vertreten, mit dem Vorwurf des Terrorismus und krimineller Aktivitäten. Politische Grundrechte und die Demokratie werden auf diese Weise systematisch ausgehebelt. Link


Schrittweise Zerstörung der indischen Zivilgesellschaft –
ein Kommentar

Rahul Mukherji, 27.07.2022

Autoritarismus: Das Markenzeichen indischer Demokratie war jahrzehntelang die lebendige, vielfältige Zivilgesellschaft, die ihre Diversität spiegelte. Zwar waren auch schon frühere indische Regierungen misstrauisch gegenüber Nichtregierungsorganisationen (NRO). Aber jetzt werden von der Modi-Regierung die Rechte zivilgesellschaftlicher Gruppen durch Gesetze wie dem zur ausländischen Finanzierung (FCRA) und dem zur Vermeidung von Geldwäsche (PMLA) nach und nach abgebaut. Und das, obwohl Teile der Zivilgesellschaft während der Covid-19 Pandemie unermüdlich Hilfe an der Basis leisteten, während der Staat durch Abwesenheit glänzte. Link

Hijab und die zunehmende anti-muslimische Hysterie

von Samina Salim, Mai 2022

Autoritarismus: Anlässlich des Kopftuchverbots für muslimische Schülerinnen reflektiert Samina Salim, eine gebürtige Inderin, die seit über 20 Jahren in den USA lebt, in diesem Beitrag, dass Indien heute nicht mehr das multikulturelle diverse Land ihrer Kindheit ist. Politisch geschürt und von Verschwörungstheorien getrieben hat sich in breitenBevölkerungsschichten eine aggressive anti-islamische Stimmung ausgebreitet. Wir dokumentieren Salims Meinungsartikel, auch wenn wir nicht alle ihre Einschätzungen teilen. Das trifft insbesondere auf die Behauptung zu, Indien befinde sich schon auf dem Weg zu einem „Völkermord“ an den Muslim:innen.

Deutsche Übersetzung: Speak Up!Link


Der Oberste Gerichtshof hegt Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes über Volksverhetzung

von People`s Union for Civil Liberties (PUCL), Mai 2022

Autoritarismus: Indiens Oberster Gerichtshof hat die Exekutive aufgefordert, keine Verhaftungen unter Berufung auf Volksverhetzung vorzunehmen und den entsprechenden Paragrafen des Strafgesetzbuchs zu überdenken. Unter der Modi-Regierung wird das Gesetz aus der Kolonialzeit exzessiv gegen Regierungskritiker:innen eingesetzt.

Deutsche Übersetzung: Speak Up!  link


Offener Brief zum Besuch des indischen Premierministers Modi in Deutschland

Mai 2022

Autoritarismus: Im Vorfeld der 6. Deutsch-Indischen Regierungskonsulationen haben Organisationen von in Deutschland lebenden indischen Staatsbüger:innen einen offenen Brief an die deutsche Regierung geschrieben, um auf die dramatische Menschenrechtssituation in Indien aufmerksam zu machen. Mit einem Offenen Brief haben sich am 28. April Organisationen von in Deutschland lebenden indischen und deutschen Staatsbürger:innen an Außenministerin Baerbock, die Menschenrechtsbeauftragte Amtsberg, Bundeskanzler Scholz und weitere deutsche Bundestags- und Europaabgeordnete gewandt, um anlässlich der 6. Deutsch-Indischen Regierungskonsultationen ihre Bedenken bezüglich dieses Treffens auszudrücken und auf den autoritären Rechtsruck und die alarmierende Menschenrechtslage in Indien hinzuweisen. Wir halten es für wichtig, den offenen Brief zu dokumentieren. Wir möchten zugleich betonen, dass wir nicht alle politischen Einschätzungen und Schlussfolgerungen des offenen Briefes uneingeschränkt teilen. Das trifft insbesondere auf die thesenhaften Ausführungen zu einem drohenden „Völkermord“ an den Muslim:innen in Indien zu.

Speak Up! Deutsche Übersetzung: Link


Indien: Medienkritik im In- und Ausland

Bharat Bushan, Mai 2022

Autoritarismus: Der Journalist und Kolumnist Bharat Bhushan beschreibt, wie das hindu-fundamentalistische Regime in Indien den Medien immer engere ideologische Fesseln anlegt. Die internationale Kritik an der Missachtung von Verfassungsrechten kann die Modi-Regierung aber nur schwer kontrollieren. Link


Interview mit Swati Kamble zu Dalitfeminismus

März 2022

Feminismus, Gender: Swati Kamble versteht sich als Dalit-Aktivistin und intersektionale Feministin. In diesem Interview mit Christa Wichterich über Dalit Feminismus lehnt sie ein Konzept von Feminismus für Dalits ab, welches durch Feministinnen der oberen Kasten geprägt ist.

Speak Up! Audio englisch: Link


Warum Kamla Bhasins kraftvoller Feminismus auch heute noch aktuell ist

von Mantasha Ansari, März 2022

Feminismen, Gender: Kamla Bhasin, die international bekannte indische Feministin, setzte sich zeitlebens ein für Frauenrechte in Südasien. Ihre Ausstrahlungskraft reichte weit darüber hinaus und bereicherte die Frauenbewegung weltweit. Sie starb im September 2021. Die junge indische Politologin Mantasha Ansari zeigt in beeindruckender Weise auf, warum Kamla Bhasins Kampf für Gleichstellung, Freiheit und die gleichberechtigte Beteiligung von Frauen an politischer Macht auch heute noch relevant ist.

Speak Up! Deutsche Übersetzung: Link


Interview mit Srilatha Batliwala zu Feminismen in Südasien

Januar 2022

Feminismus, Gender: Srilatha Batliwala berichtet im Gespräch mit Christa Wichterich über ihr Verständnis von Feminismus, das Besondere an südasiatischen Feminismen, warum sie den Begriff Gender selten benutzt, und davon, dass jungen Feminist:innen jenseits von Empowerment eine Veränderung gesellschaftlicher Strukturen zum Ziel haben.

Speak Up! Video englisch: Link 

Interview mit Kalpana Sharma zu Gewalt gegen Frauen

Dezember 2021

Feminismus, Gender: Kalpana Sharma ist eine der bekanntesten unabhängigen Journalistinnen in Indien. Gewalt gegen Frauen in den unterschiedlichsten Formen war ein Schwerpunkt ihrer Berichterstattung in den Medien und das Thema ihres Buches „The Silence and the Storm“.

Speak Up! Video englisch: Link

Ein Kampf für die zukunftige Generation um künftige Ernten

Interview mit Sunil Kumar, Dezember 2021

Bäuer*innenkämpfe: Im November 2021 hat die indische Regierung überraschend die Zurücknahme der drei umstrittenen Landwirtschaftsgesetze angekündigt, die im Mittelpunkt der von der Vereinigten Bauernfront (Samyukta Kisan Morcha / SKM) angeführten Protestaktionen standen. Es waren die größten Proteste, die Indien seit Jahrzehnten erlebt hat. Der Aktivist und Autor Sunil Kumar erklärt in einem Interview was für die Mobilisierungsfähigkeit der bäuerlichen Protestbewegung entscheidend war und ob der Erfolg der Bewegung der Bäuer:innen den Anfang vom Ende der Regierung Modi bedeuten kann.

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Zwei Kommentare zur Rücknahme der umstrittenen Gesetze zur Landwirtschaft

November 2021

Bäuer*innenkämpfe: Die indische Bäuer:innenbewegung hat nach einem Jahr Protesten und Belagerung einen riesigen Erfolg erzielt: die Regierung hat angekündigt, die drei umstrittenen Landwirtschaftsgesetze zurückzuziehen. Das zielt unmissverständlich auf die bevorstehenden Wahlen in zwei nordindischen Bundesstaaten. Die Bäuer:innen warten nun auf die Umsetzung der Ankündigung und halten ihre Forderungen nach der Rücknahme weiterer Gesetze und nach einem demokratischeren Regierungsstil aufrecht.

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Eine Million Gründe, Widerstand zu leisten

von Navsharan Singh, November 2021

Bäuer*innenkämpfe: Im Windschatten der Corona-Pandemie hatte die indische Regierung im September 2020 drei neue Gesetze auf den Weg gebracht, die den Landwirtschaftssektor der Macht großer Agrarkonzerne ausgeliefert hätten. Diese Gesetze hat die Regierung Modi nun überraschend zurückgenommen. Damit gibt sie dem anhaltenden Druck einer breiten Protestbewegung nach, die sich, angeführt von den bäuerlichen Gewerkschaften, vor fast genau einem Jahr vor den Toren von New Delhi formierte. Am 26. November 2021 jährt sich ihr ungebrochener Widerstand, in dem Frauen eine wichtige Rolle spielen. Er richtet sich nicht nur gegen die erwähnten Landwirtschaftsgesetze, sondern darüber hinaus gegen eine neoliberale Politik, die die Existenz von Millionen Kleinbäuer:innen und Landlosen gefährdet. Der Protest hat sich mittlerweile zur größten und am längsten andauernden gewaltfreien Bewegung in der Geschichte Indiens entwickelt. Die Rücknahme der drei Landwirtschaftsgesetze ist ihr historischer Erfolg.

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Heldinnen an vorderster Front

Interview mit Radhika Menon zu ASHAs, November 2021

Autoritarismus: Zum Höhepunkt der Pandemie 2020 wurden ‚freiwillige’ Gesundheitsarbeiterinnen, die für ihre Arbeit keinen regelmäßigen Lohn erhalten, dazu verpflichtet, Aufgaben der Pandemiebekämpfung in ihren Dörfern, vor allem gegenüber Wanderarbeiter:innen und ihren Familien zu übernehmen. Ihr Lohn dafür war symbolischer Applaus und Schlagzeilen in einer militarisierten Sprache in allen Medien, dass die ASHAs „an der Front“ und in der “vordersten Verteidigungslinie kämpfen“. Vor dem Hintergrund internationaler Debatten über neue Formen von Zwangsarbeit muss konstatiert werden, dass die schwierigsten und gesundheitsgefährdetsten Aufgaben den Gemeindearbeiterinnen als schwächsten Gliedern in der Kette der Gesundheitsversorgung übertragen wurden. Sie streikten und forderten – wie Gesundheitsarbeiter:innen in anderen Ländern – ein gut finanziertes öffentliches Gesundheitswesen.

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Covid-19 verwüstet Dalit Gemeinschaften

von International Dalit Solidarity Network (IDSN), Oktober 2021

Kastengesellschaft: Sozioökonomische und gesundheitliche Folgen der Covid-Pandemie betreffen in Indien besonders Dalits und andere marginalisierte Gruppen. Die Kluft zwischen ihnen und denjenigen, die höher im Kastensystem stehen, scheint zu wachsen. Soziale Distanzierung verstärkt soziale Ungleichheiten.

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Abstand halten! und die Sozialordnung in Indien

von Goldy M. George und Sabina Yasmin Rahman, Oktober 2021

Kastengesellschaft: Der Begriff der 'sozialen Distanzierung', den die indische Regierung von Beginn der Pandemie an popularisierteruft bei Dalits, Adivasi und Muslim:innen die Erinnerung und das Stigma wach, die mit Kasteismus und Exklusion, Trauma und Unterdrückung verbunden sind. In den beiden hier dokumentierten Artikeln wird beleuchtet, welchen Einfluss die Verwendung des Begriffs 'soziale Distanzierung' auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Dimension hat und wie dadurch gesellschaftliche Lebenswirklichkeiten und neue Ausgrenzungen konstruiert werden. Während der Text von Goldy George auf Dalits fokussiert, macht Sabina Rahman ein breiteres soziales Spektrum von Ausgrenzungen auf. Beide Autor:innen stimmen darin überein, dass soziale Distanzierung politisch eingesetzt wird, um soziale Ächtung und Ungleichheiten zu erhalten oder zu verstärken.

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Corona Kapitalismus und das Hindu-Reich

von Nivedita Menon, September 2021

Autoritarismus: Die Covid-Pandemie wird sowohl von der Politik des Hindu-Reichs als auch vom neoliberalen Kapitalismus genutzt, um ihre Vorherrschaft durch Islamophobie und den Lockdown zu stabilisieren. Corona-Kapitalismus bedeutet, dass am oberen Ende im Gefolge der Corona-App ein Datenkapitalismus als politisches und wirtschaftliches Überwachungssystem installiert wird, während am unteren Ende Zwangsarbeit und extrem prekäre Arbeit durch die Wanderarbeiter:innen geschaffen wird, um die Produktion zu sichern.Nivedita Menon beleuchtet Aspekte des Corona-Kapitalismus.

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Der Fußabdruck der Pandemie - Auswirkungen der Corona-Krise auf Demokratie und Geschlechtergleichstellung

von Pamela Philipose, September 2021

Autoritarismus: Die hindufundamentalistische BJP-Regierung unter Premierminister Modi nutzt die Covid-19- Krise, um ihre Vorherrschaft zu stärken und die Demokratie zu unterminieren. Im Schatten der Pandemiebekämpfung wurden drakonische Gesetze und Maßnahmen erlassen, die dazu beitragen, Minderheiten zu kriminalisieren und die Kluft zwischen Reich und Arm weiter zu vergrößern. Besonders betroffen sind Frauen, die mehr denn je unter Gewalt, Armut und Rechtlosigkeit zu leiden haben.

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