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Reportagen & Analysen

"Und die Schweine schauen zurück"

von Uwe Hoering, Januar 2014

In den Zügen nach Berlin waren vor der ‚Grünen Woche’, der alljährlichen Leistungsschau der Agrar- und Ernährungsindustrie Mitte Januar, Hochglanzbroschüren ausgehängt mit einem dicken, saftigen Doppelsteak auf der Titelseite. Das 'Meat Magazin', herausgegeben vom Deutschen Bauernverband, wirbt für „Schwein haben, jeden Tag“ und „Fleisch gehört dazu“, porträtiert Bauern mit einem „Herz für die Kuh” oder preist den Nutzen von „Technik für Mensch und Tier“. Es menschelt kräftig, beispielsweise in der Geschichte über die Landwirtefamilie Bielfeldt: Dank der Automatisierung haben sie jetzt Zeit zum Blickkontakt mit ihren Schweinen. Und die schauen zurück. „Diesem Blick must du standhalten, er macht dir bewusst, dass du für die Tiere verantwortlich bist.“ Von wegen unpersönliche Massentierhaltung!

 

Schöne heile Welt

Broschüren wie das Meat Magazin sind Teil einer breiten Image-Kampagne der Agrarindustrie. Denn parallel zur ‚Grünen Woche’ fand auch wieder die Großdemonstration „Wir haben es satt“ statt, bei der die Praktiken der Fleischindustrie im Zentrum der Kritik an der Agrarwirtschaft standen, neben dem Handelsabkommen TTIP, das gegenwärtig von den USA und der EU ausgehandelt wird und das weitreichende Auswirkungen auf den Agrarhandel und die Lebensmittelqualität haben könnte. Offensichtlich zeigen die Kritik und der Widerstand gegen Massentierhaltung und Riesenschlachthöfe Wirkung. Zahlreiche Medienberichte und Publikationen problematisieren Haltungsprobleme, Arbeitsbedingungen, Rückstände im Fleisch und Auswirkungen von Importen und Exporten auf die bäuerliche Landwirtschaft in außereuropäischen Ländern, Spitzenköche und –köchinnen erwärmen sich für Slow Food und vegetarische Ernährung. Es ist gelungen, die industrielle Tierhaltung und Fleischproduktion insgesamt zum Skandal zu machen, über einzelne Skandale hinaus, die schnell als Ausreißer bagatellisiert und mit neuen Vorschriften scheinbar überwunden werden können.

Wie im 'Meat Magazin' versucht die Industrie, die Bilder von Kükenvergasung, Massentierhaltung, kranken Hühnern und Schweinen und Billiglöhnern in den Schlachthöfen mit Geschichten von Familienbetrieben, in denen eine persönliche Beziehung zwischen Tierhaltern und ihren Tieren gezeichnet wird, zu konterkarieren. Missstände haben da natürlich keinen Platz, es geht nur um das Wohl der Tiere, „kein Tier leidet“ hier. Die Leugnung der Massentierhaltung („eher ideologischer Begriff denn Realität“) zumindest in deutschen Betrieben ist eine weitere Säule der Gegenstrategie, mit der die Industrie auf die breite Kritik an ihren Produktionsmethoden reagiert, eine dritte der Gesundheitsaspekt vom „Fleisch als nährstoffreichem Lebensmittel, das uns eine gute Ernährung leichter macht“.

 

Fleischatlas 2014

Zwei aktuelle Publikationen reiben weiter Salz in die Wunden der Industrie. Der 'Fleischatlas 2014' liefert in Beiträgen und Schaubildern „Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel“. Das Themenspektrum reicht von der Fleischlust der Mittelschichten, besonders in Schwellenländern, über die Konzentration der globalisierten Industrie, unter anderem auch in der Tiergenetik, die Praktiken von Lebensmittelketten und immer größeren Mast- und Schlachtanlagen bis zur Nutzung von Agrarland für Futtermittel und Rückständen in Fleisch, Milch und Eiern.

Die Publikation zielt vorrangig auf VerbraucherInnen, macht ihren Fleischkonsum zum Ausgangspunkt für den Blick hinter die „Kulissen der Schlachthöfe und der Fleischindustrie“, um „die Leiden der Tiere, ökologische Schäden oder sozial negative Auswirkungen“ der Fleischproduktion, die die Industrie gerne verheimlicht, aufzuzeigen. Durch Verringerung ihres Fleischkonsums, den Umstieg auf nachhaltig erzeugte Produkte oder gar den Verzicht auf Fleisch und andere tierische Produkte können sie den Druck auf die Industrie verstärken und die Aussichten für Alternativen verbessern - Verbraucher sowohl ein Teil des Problems als auch ein Teil der Lösung.

Im Unterschied zu der ersten Ausgabe, die vor einem Jahr erschienen ist, werden stärker solche möglichen Alternativen wie urbane Tierhaltung, ‚solidarische Landwirtschaft’ oder Weidehaltung vorgestellt – bis hin zu Initiativen, die andere Proteinquellen wie Seetang oder Insekten schmackhaft machen wollen. Zudem wird auf eine Reihe von Organisationen verwiesen, die Mittelschichtverbraucher für die Folgen ihres Fleischkonsums sensibilisieren. Andere Organisationen wie La Via Campesina, More and Better und die Food Sovereignty Movement setzen sich darüber hinaus für eine nachhaltige Landwirtschaft ein, in der bäuerliche Tierhaltung einen Platz hat.

 

Vertretbare Landwirtschaft

Klar ist, dass individuelle Veränderungen im Konsumverhalten allein nicht ausreichen, um solchen und anderen Alternativen zum Durchbruch zu verhelfen. Verbraucher stehen zwar am Ende der Wertschöpfungsketten der Agrar- und Ernährungsindustrie, aber nicht unbedingt am längeren Hebel. Im öffentlichen Diskurs mag die Wachstums- und Profitstrategie der Agrar- und Ernährungsindustrie momentan in der Defensive sein, doch ihre wirtschaftliche Macht, ihr Einfluss auf politische Entscheidungen, Handelsabkommen und Verbraucherverhalten ist nach wie vor immens.

Dem globalen Schlachtschiff Fleischindustrie soll daher zusätzlich vor allem durch zwei miteinander verknüpfte Ansätze Paroli geboten werden. Zum einen durch stärkere Regulierung und Kontrolle, zum anderen durch Entfaltungsmöglichkeiten für Alternativen, die über die Bereitschaft von Verbrauchern, ihr Konsumverhalten zu ändern, hinausgehen müssen. Anstatt die Massentierhaltung mit öffentlichen Geldern zu fördern, werden im 'Fleischatlas' daher „vernünftige politische Rahmenbedingungen für eine ökologische, soziale und ethisch vertretbare Landwirtschaft“ gefordert. Zu einer nachhaltigen Viehwirtschaft gehören demnach eine Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen mit Weidehaltung, die Verpflichtung, mehr Futtermittel selbst anzubauen anstatt zu importieren, den Einsatz von Antibiotika zu verbieten und artgerechte Tierhaltung auszuweiten.

 

Der kritische Agrarbericht

Wie das aussehen kann, darauf geht 'Der kritische Agrarbericht 2014', der den Schwerpunkt „Tiere in der Landwirtschaft“ hat, ausführlicher ein. Herausgegeben vom AgrarBündnis, stammen wie beim 'Fleischatlas' die Beiträge überwiegend von AktivistInnen und MitarbeiterInnen zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sich kritisch mit entwicklungspolitischen, landwirtschaftlichen, ökologischen oder verbraucherorientierten Aspekten  im Agrar- und Ernährungsbereich beschäftigen.

Auch hier geht es um globale Zusammenhänge wie die Folgen der Massentierhaltung für Umwelt, Klima und Natur und um die Produktionsbedingungen in der Industrie. Stärker aber fällt die Diskussion aus, wie praxisnahe Alternativen in Europa aussehen können und welche Umsetzungsbedingungen es gibt, um sie aus der Nische herauszuführen und wirtschaftlich tragfähig zu machen.  Wie jedes Jahr fasst der Bericht zudem der Entwicklungen und Trends im vergangenen Jahr in Themenbereichen wie Agrarpolitik, Welthandel und Ernährung, ökologischer Landbau, Produktion und Markt, Natur und Umwelt, Wald, Gentechnik oder Tierschutz und Tierhaltung zusammen.

Beide Publikationen zeigen, dass mit der industriellen Fleischproduktion ein Thema gefunden wurde, das öffentlichkeitswirksam und mobilisierend Konsum, Produktion, globalen Handel und Agrarpolitik bündelt.  Während der ‚Fleischatlas’ dabei vorrangig an die „bewussten Verbraucher“ gerichtet ist, dem eine erhebliche Macht bei der Herbeiführung der notwendigen Veränderungen zugeschrieben wird, reflektiert 'Der kritische Agrarbericht’ zusätzlich die Ansätze und Schwierigkeiten einer umfassenden Agrarwende. Um das Agrar- und Ernährungssystem, zu dessen übelsten Formen ohne Frage die industrielle Fleischproduktion gehört, grundlegend zu ändern, kommt den bäuerlichen Produzenten weltweit eine entscheidende Rolle zu.

Deutscher Bauernverband (Hg.), Meat Magazin. Berlin. Bestellung (2 Euro plus Versandkosten)

Fleischatlas 2014. Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel. Ein Kooperationsprojekt von Heinrich-Böll-Stiftung, BUND und Le Monde diplomatique. Januar 201. Bestellung

Der kritische Agrarbericht 2014. Schwerpunkt: Tiere in der Landwirtschaft. Herausgegeben vom AgrarBündnis. Bestellung und frühere Berichte (Online-Versionen)

Fleischatlas 2016. Deutschland Regional. Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel. Herausgegeben von Heinrich Böll Stifung und BUND. Januar 2016. Bestellung und Download (pdf)