Globe Spotting

Themendienst

Reportagen & Analysen

„Wende“ in Chinas Politik der Ernährungssicherung?

von Uwe Hoering, März 2013

In seinem Jahresbericht 2012 sieht das Forschungsinstitut für Ernährungspolitik, IFPRI, China an einem „Wendepunkt“. Nachdem das Land jahrelang bei wichtigen Getreidesorten Selbstversorger war, wurden im vergangenen Jahr zwei bis drei Millionen Tonnen Reis, vier bis fünf Millionen Tonnen Weizen und fünf bis sechs Millionen Tonnen Mais importiert (1). Andere Beobachter sehen China deswegen gar auf dem Weg in eine „strategische Abhängigkeit“ vom Weltagrarmarkt.

Während sich US-amerikanische Exporteure freuen und hoffen, den Abwärtstrend in den USA beim Absatz von Mais für Viehfutter und Ethanol zu kompensieren, kehrt bei anderen die Sorge zurück, die Lester Brown vom Worldwatch Institute bereits Mitte der 1990er Jahre vorgebracht hat und die seither häufig den Blick auf die Agrarentwicklung in China prägt: „Who will feed China?“. Die Sorgen um die globalen Auswirkungen werden verstärkt durch die wachsenden Futtermittelimporte, um die steigende Nachfrage nach Schweinefleisch zu befriedigen. China ist bereits mit einem Anteil von 60 Prozent der weltweit größte Importeur von Soja, mit Mais gerät jetzt ein weiteres Futtergetreide auf die Einkaufsliste. Deshalb lautet die aktualisierte Version der Lester-Brown-Frage inzwischen auch: „Who will feed Chinas pigs?“ (2).

 

Volk ohne Land?

Zu den bisherigen Befürchtungen, der steigende Wohlstand und der wachsende Appetit von mehr als einer Milliarde Chinesen würden die Nahrungsmittelpreise weltweit hoch treiben und damit den Hunger verstärken, gesellen sich inzwischen die Gefahren des Land grabbing, des Interesses finanzkräftiger Investoren an Agrarland, das von Kleinbauern oder Hirten genutzt wird. Der Afrika-Beauftragte der Bundesregierung, Günter Nooke, löste vor zwei Jahren mit seinem Vorwurf, chinesische Agrarinvestitionen seien für den Hunger in Afrika mitverantwortlich, diplomatische Verstimmung aus (Nachricht vom 1. August 2011).

Auf den ersten Blick können sich solche Befürchtungen auf makroökonomische Basisdaten stützen: In China lebt ein Fünftel der Weltbevölkerung, doch der Anteil an Agrarland und Wasser liegt bei zehn beziehungsweise sieben Prozent. Diese Grundlagen der Ernährungssicherheit werden durch Urbanisierung, Degradierung von Böden und gravierende Wasserverschmutzung weiter eingeschränkt. Um die Lücke zwischen steigender Nachfrage und begrenzten Ressourcen zu schließen, müsse China deshalb verstärkt auf Importe und Outsourcing der Landwirtschaft setzen.

Aber sind die Befürchtungen berechtigt? Steht China wirklich an einem Wendepunkt? Mit weitreichenden Auswirkungen auf die Weltmarktpreise? Und damit auf den Zugang zu Nahrungsmitteln für ärmere Länder und Bevölkerungsgruppen? Wiederholt sich eine Entwicklung wie bei den Sojaimporten, bei denen China mittlerweile einen Anteil am weltweiten Handel von rund 60 Prozent hält und damit die Ausdehnung der Anbauflächen in Lateinamerika, ökologische und soziale Verwerfungen fördert. Die finanziellen Möglichkeiten dafür hätte es. Oder gibt es noch andere Optionen? Schauen wir uns die Zahlen zunächst einmal genauer an (Siehe Tabelle):

 

Höhere Importe

Auf den ersten Blick sieht es tatsächlich nach einem Wendepunkt aus. Besonders deutlich fällt der „Swing“ bei Mais aus: Vom Nettoexporteur wurde China binnen weniger Jahre zum Nettoimporteur. Und manche Beobachter rechnen bereits damit, dass in drei, vier Jahren eine Einfuhr von bis zu 28 Millionen Tonnen notwendig sein könnte (3). Diese Prognose wird allerdings möglicherweise durch die Hoffnungen der Spekulanten und Exporteure beeinflusst. Andere Schätzungen liegen da weitaus niedriger.

Die höheren Importe von Reis, Weizen und Mais machen jedoch nur einen Bruchteil der einheimischen Produktion aus und sind keineswegs Anzeichen für tatsächliche Engpässe. Insgesamt wurden 2012 mehr als 589 Millionen Tonnen Getreide im Land erzeugt. Das politische Ziel, sich zu 95 Prozent selbst zu versorgen, scheint nach wie vor nicht gefährdet.

Der Anstieg hat ganz unterschiedliche Gründe: Reis beispielsweise ist momentan auf dem Weltmarkt preiswerter als im Land. Die Regierung füllt daher ihre Lagerbestände auf beziehungsweise hält den einheimischen Preis unter Kontrolle. Bei Weizen treibt anscheinend eher die begrenzte Nachfrage anspruchsvollerer städtischer Konsumenten nach weißem Mehl die Importe an. Generell wirkt sich der steigende Wohlstand eher auf hochwertige Produkte aus – von Milch und Käse bis Hummer und Champagner (4).

Auch global sind die Importe noch keineswegs ein Drama: Ihr Anteil am internationalen Handel mit Reis, Weizen und Mais liegt deutlich unter zehn Prozent (siehe Tabelle), gleichzeitig steigt die Produktion weltweit weiter an (5). Für die Preisentwicklung und die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln für die ärmeren Länder sind nach wie vor andere Faktoren weitaus wichtiger – etwa die Agrarpolitik der USA und Europas, wie sie der IFPRI-Bericht anprangert, oder die Spekulation mit Nahrungsmitteln.

Steigende Nahrungsmittelimporte und Auswirkungen auf die Weltmarktpreise wären auch für China selbst politisch und wirtschaftlich nicht unproblematisch. Innenpolitisch könnten sie zu höheren Lebenshaltungskosten beitragen, außenpolitisch Abhängigkeit von den Entscheidungen wichtiger Exportländer wie den USA, Russland oder der Ukraine, der globalen US-Handelskonzerne, die den weltweiten Getreidemarkt kontrollieren, und der Finanzspekulation mit Agrarprodukten bedeuten.

 

Also Land grabbing?

Genau dieses Problem wachsender Weltmarktabhängigkeit bei der Versorgung mit Agrarprodukten, und besonders mit Grundnahrungsmitteln, war ein wesentlicher Antrieb für Land grabbing. Und China gehörte von Anfang an zu den ‚üblichen Verdächtigen’. Auch hier scheinen Basisdaten und Logik die Befürchtung zu bestätigen, durch Outsourcing von Agrarproduktion die Schere zwischen Ressourcenmangel und sich verändernden Konsumgewohnheiten zu schließen.

Doch viele Berichte und Projekte, besonders in Afrika, haben sich mittlerweile in Luft aufgelöst (6). Die chinesischen Agrarinvestitionen konzentrieren sich auf Südostasien, wo vorrangig agroindustrielle Rohstoffe wie Kautschuk oder Holz produziert werden, auf Zentralasien mit großflächigen, oft brachliegenden Ländereien für Getreide und Futter, auf Schwellenländer wie Brasilien, wo das Motiv jedoch eher die Erschließung des einheimischen Marktes ist, und auf Industrieländer wie Australien und Neuseeland, wo beispielsweise die Milchwirtschaft immer stärker in chinesische Hände übergeht.

Politisch sieht es gegenwärtig eher aus, als wollten Regierung und chinesische Agrarkonzerne die Karte Agrarinvestitionen nicht ausreizen. Sie erfordern einen hohen Kapitaleinsatz, bergen wirtschaftliche Risiken und versprechen bestenfalls langfristig Rendite, besonders im Nahrungsmittelanbau. Dazu machen das verbesserte Monitoring von Land grab-Fällen durch die internationale Zivilgesellschaft, anhaltende Proteste und lokaler Widerstand Projekte auch politisch riskant.

Zudem haben beim Run auf Afrika momentan europäische und US-amerikanische Konzerne bereits die Nase vorn, nachdem die Weltbank, US-amerikanische Stiftungen und staatliche Entwicklungsorganisationen jahrelang ‚das Feld’ dafür bereitet haben. Mit ‚Neuen Allianzen’ von Regierungen und Unternehmen, erheblichen Investitionen in Verkehrs- und Bewässerungsinfrastruktur, in ‚Landwirtschaftliche Entwicklungskorridore’ und regionale Freihandelszonen geht jetzt die agrarindustrielle Erschließung Afrikas in die zweite Runde, wobei allerdings unklar bleibt, ob sich Ankündigungen von Konzernen wie Monsanto & Co. tatsächlich erfüllen werden, in die Landwirtschaft, die Verarbeitungsindustrie oder die Vermarktung zu investieren.

 

Transformation der Landwirtschaft

Beide Optionen werden wesentlich davon abhängen, inwieweit es gelingt, die Produktion der chinesischen Landwirtschaft selbst zu steigern. Schließlich hat das Land noch Spielräume: Bei Mais liegen die durchschnittlichen Hektarerträge nur halb so hoch wie in den USA, und auch bei Reis und Weizen liegen sie teilweise deutlich unter Erträgen, die beispielsweise in Deutschland erreicht werden (siehe Tabelle).

Jedenfalls ist seit zehn Jahren eine beschleunigte Transformation des Agrarsektors im Gange: Maßnahmen zur Steigerung von Effizienz und Produktivität, von Investitionen und Absatzmöglichkeiten werden begleitet von Ankündigungen, den Ressourcenschutz zu verbessern: Dazu gehört, dass die ‚rote Linie’, die Grenze von 120 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche,  nicht unterschritten werden soll.

  • So sind die staatlichen Agrarausgaben, Subventionen eingeschlossen, seit Jahren stark angestiegen.
  • Die öffentlichen Aufwendungen für Agrarforschung liegen inzwischen weit höher als in Brasilien und Indien und nähern sich den Investitionen in den USA an. Sie konzentrieren sich unter anderem auf die Entwicklung neuer Hochertragssorten und auf die Bio- und Gentechnologie.
  • Der Ausbau der industriellen Agrarwirtschaft durch große einheimische, teils staatliche Konzerne wird beschleunigt, nicht nur in der Tierhaltung, sondern auch im Getreideanbau. Auch neue Möglichkeiten wie die Bildung von großen Genossenschaften sollen helfen, die Kleinteiligkeit der bäuerlichen Landwirtschaft mit ihren begrenzten Ressourcen (Land, Arbeitskraft, Kapital) zu überwinden.
  • Damit gehen Bestrebungen zu Konsolidierung und Zusammenlegung von Land einher, um aus den Millionen kleinen Feldern industriell zu bewirtschaftende und profitable Einheiten zu machen. Dazu gehören Ansätze, die Nutzungs- und Eigentumsverhältnisse an Land zu reformieren und Landmärkte zu schaffen, um Verpachtung, Verkauf und andere Formen der Eigentumsübertragung marktwirtschaftlich zu regeln – und nicht wie gegenwärtig informell und oft willkürlich, was häufig zu Konflikten führt.
  • Eine besondere Rolle spielen in dieser Strategie Joint Ventures mit ausländischen Agrarkonzernen, um Zugang zu neuen Züchtungstechnologien oder verbesserten Managementmethoden zu bekommen.

Der Erfolg dieser Transformation hängt von verschiedenen Faktoren ab.

Wichtig sind zum einen die Ressourcenvoraussetzungen: In den vergangenen Jahren hat sich die Strategie aus staatlicher Förderung für die Landwirtschaft und schrittweisem Ausbau der Agrarindustrie bewährt. Erhebliche Produktionssteigerungen waren die Folge. Ob sich das weiter fortsetzen lässt, ist jedoch umstritten. In vielen Regionen liegt die Landproduktivität bereits sehr hoch, der Produktivitätszuwachs flacht ab, die Folgen des Klimawandels könnten weitere negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft haben.

Zudem ist diese Transformation politisch sensitiv. Erforderlich ist, dass die Bauern mitmachen, deren Landnutzungsrechte seit der Reform von 2007 besser gesichert sind und die ihre Konfliktbereitschaft immer wieder demonstrieren. Das heißt beispielsweise, dass sie ihre kleinen Felder aufgeben und neue Einkommensmöglichkeiten in den Städten suchen – und finden. Ein weiterer Schub von –zig Millionen Arbeitssuchenden wird möglicherweise nicht mehr so leicht aufzufangen sein wie in der Vergangenheit, als die beschäftigungsintensive Industrialisierung und der Bauboom 160 bis 250 Millionen Wanderarbeiter absorbierten, wenn auch unter höchst prekären Arbeits- und Lebensbedingungen.

Die große Frage bleibt, mit welcher Geschwindigkeit sich diese Umstrukturierung vollzieht. Und wie die Auswirkungen auf die bäuerlichen Betriebe, die nach wie vor nicht nur ein erheblicher Wirtschafts- und Beschäftigungsfaktor sind, sondern auch zur sozialen Stabilität beitragen, abgefedert werden. Parallel zur Transformation der Agrarindustrie arbeitet die Regierung denn auch intensiv an dieser sozialen Frage. Dazu gehören der Aufbau sozialer Sicherungssysteme für die ländliche Bevölkerung, die Verlagerung von Industriebetrieben und der Ausbau neuer städtischer Zentren in Regionen, die bislang noch überwiegend landwirtschaftlich geprägt sind. Ob die Rechnung: soziale Sicherungssysteme und Beschäftigung in den Städten gegen Land als Einkommensquelle und soziale Sicherheit, aufgehen wird – auch dies eine offene Frage.

Jedenfalls wird die Agrarfrage zu einer wichtigen Triebkraft für die Reformen, mit denen der Staat momentan versucht, die großen und potenziell konfliktträchtigen sozialen und wirtschaftlichen Gegensätze zwischen unterschiedlichen Regionen, zwischen Metropolen und ländlichen Gebieten und zwischen Arm und Reich zu verringern.

 

Schluss

Eine weitere Option wäre natürlich, die steigende Nachfrage nach Agrarprodukten zu bremsen. Doch ist es schwierig, Veränderungen im individuellen Konsumverhalten politisch zu beeinflussen. Chinas Konsumenten werden daher vermutlich auch weiterhin Fleisch, Milch und Fisch kaufen wollen, egal, woher das Futter dafür kommt.

So wird es – wie bisher - auf einen Mix von allen drei Optionen für die Steigerung des Angebots hinauslaufen: Flexible Importe, gezieltes Land grabbing und die schrittweise Zurückdrängung der einheimischen bäuerlichen Landwirtschaft. Wie das Verhältnis untereinander aussehen wird, wird wesentlich davon abhängen, ob die agroindustrielle Transformation der chinesischen Landwirtschaft zu weiteren Produktionssteigerungen führt oder ob die Spielräume tatsächlich bereits weitgehend ausgeschöpft sind, wie skeptische Beobachter glauben. Von einem Wendepunkt zu sprechen, scheint allerdings verfrüht.

 

(1) IFPRI: 2012 Global Food Policy Report. Washington D.C. 2013. Link: http://www.ifpri.org/gfpr/2012

(2) Uwe Hoering, Fatale Lust auf Schwein. In: 'junge Welt', 3. August 2011.  Download (pdf-Datei 1.0 MB) 

(3) http://www.bloomberg.com/news/2012-02-23/corn-imports-by-china-seen-rising-sevenfold-to-record-as-demand-increases.html

(4) Siehe dazu den TextSteigende Agrarimporte, Dezember 2012

(5) http://www.fao.org/worldfoodsituation/wfs-home/csdb/en/

(6) Irna Hofman & Peter Ho, China's 'Developmental Outsourcing': A critical examination of Chinese global 'land grabs' discourse. In: The Journal of Peasant Studies, Vol. 39, No. 1, January 2012, 1-48. Download (pdf-Datei)

Anmerkung: Dieser Beitrag basiert auf einem Input beim Kolloquium der China International Research Group (www.iamo.de/China-group/home.html) am Leibniz Institute of Agricultural Development in Central and Eastern Europe (IAMO) am 26. März in Halle (Saale).