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No.1 Central Document - Transformation organisieren

Von Uwe Hoering, Februar 2014

Seit elf Jahren befasst sich die erste Regierungserklärung eines neuen Jahres (No.1 Central Document), mit der das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas und der Staatsrat, i.e. die Zentralregierung in Beijing, ihre politischen Prioritäten vorstellen, mit den ‚Three rural issues’ – der Landwirtschaft, den ländlichen Gebieten und der Lage der bäuerlichen Bevölkerung. Das zeigt die große Bedeutung, die die Agrarfrage nach wie vor für die Politik hat: Trotz Urbanisierung und Industrialisierung lebt immer noch knapp die Hälfte der Bevölkerung (offiziell, also mit registriertem Wohnsitz, Hukou) in den ländlichen Regionen und zumindest teilweise von der Landwirtschaft.

Im Unterschied zu Berichten, dass sich eine Abkehr vom Ziel der Ernährungssicherheit bei Grundnahrungsmittel abzeichnet (siehe Nachricht vom 17. Februar 2014), bekräftigt das Dokument, dass „die Kontrolle über die eigene Essenschale ein grundlegendes Prinzip ist, an dem die Regierung langfristig festhalten muss“. Eine Rekord-Getreideernte im vergangenen Jahr mit über 600 Millionen Tonnen unterstreicht diese Position, auch wenn die Importe von Soja, Mais und Weizen – überwiegend für Tierfutter – steigen. Diese Entwicklung wird sich auch, so das Dokument, fortsetzen: „Auf der Grundlage der einheimischen Getreideproduktion wird das Land die internationalen Märkte für Agrarprodukte als eine Ergänzung zum einheimischen Angebot nutzen“, zitiert die Nachrichtenagentur Xinhua den Text.

 

Die Verteidigung der 'Roten Linie'

Die Erwartungen einer Abkehr vom Prinzip der Ernährungssicherheit stützen sich auf vereinzelte Äußerungen aus Regierungskreisen, vor allem aber auf die wirtschaftlichen Grunddaten, die zeigen, dass die Verteidigung der  ‚Roten Linie’, der Erhalt von 120 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche, immer schwieriger wird.

Dieses Problem wird in dem Dokument denn auch zentral angesprochen. Umweltschäden an Böden und Wasser, unter anderem durch den Einsatz von Dünger und Pestiziden, werden immer gravierender. Im vergangenen Jahr, so meldet Reuters, seien 3,33 Millionen Hektar nicht mehr für den Anbau von Nutzpflanzen geeignet gewesen. Wassermangel und den Verlust fruchtbarer Agrarflächen an Städte und Industrien in den Griff zu bekommen ist denn auch eine zentrale Zielsetzung der Politik, um eine „nachhaltige landwirtschaftliche Entwicklung“ zu schaffen.

 

Die Abwanderung bremsen

Kern des Dokuments ist allerdings der Versuch, den unaufhaltsamen Strukturwandel von Landwirtschaft und ländlichen Regionen angesichts der „Transformationsperiode“, die das Land durchmacht, so abzufedern und zu organisieren, dass Probleme und Konflikte vermieden werden: „Wir müssen die Urbanisierung und den ländlichen Wiederaufbau aufeinander abstimmen“. Ziel sei die Förderung einer „modernen Landwirtschaft mit chinesischen Charakteristika“, schreibt Xinhua. Dafür sollen die Agrarausgaben kontinuierlich steigen, die Subventionspolitik verbessert und „ein Mechanismus zur Ausgleich von Interessen“ geschaffen werden.

Neben Problemen, die die Ressourcengrundlage der Landwirtschaft gefährden, herrschen in vielen Regionen Arbeitskräftemangel aufgrund der Migration, unzureichender Zugang zu Kredit für bäuerliche Betriebe und ein starkes Gefälle zwischen städtischen und ländlichen Regionen bei der Grundversorgung mit Gesundheits- und Bildungseinrichtungen und den Einkommen. Seit einigen Jahren hat die Regierung die Bemühungen verstärkt, den Ausbau von Infrastruktur, Grundversorgung und sozialen Sicherungssystemen in ländlichen Gebieten voranzutreiben. „Um das nationale Ernährungssicherungssystem zu verbessern, sollte das Landsystem umfassend reformiert und die Verwaltungsstrukturen in den ländlichen Regionen verbessert werden, die Unterstützung und der Schutz der Landwirtschaft intensiviert und finanzielle Fördermaßnahmen für ländliche Regionen gefördert werden.“ Diese Bemühungen fügen sich ein in die neue Wachstumsstrategie einer verstärkten Binnenmarktorientierung, die durch die globale Krise beschleunigt wurde.

Zur Verbesserung der Situation in den ländlichen Regionen, durch die die Abwanderung gebremst werden soll, gehören Experimente mit der Ausweitung von Möglichkeiten, Land zu verpachten, und die Umwandlung der kleinteiligen Familienlandwirtschaft in eine industrialisierte „moderne“  Landwirtschaft mit einheimischen Agrarkonzernen (Dragon head enterprises), großflächiger Mechanisierung, der Entwicklung eines modernen Saatgutsektors und technologischen Innovationen.

 

Urbanisierungspolitik

Dass damit die Abwanderung nicht gänzlich gestoppt werden kann, ist auch der Regierung klar. Durch ihre Urbanisierungspolitik versucht sie aber, sie verstärkt in die Städte in den Provinzen zu lenken, weg von den bereits überlasteten Ballungsgebieten – anscheinend mit einigem Erfolg. Gleichzeitig soll aber auch die Reform des Hukou-Systems beschleunigt werden, um ihnen zu ermöglichen, ihren Wohnsitz in den Städten zu registrieren und damit in den Genuss der damit verbundenen Rechte zu kommen - und aus der "floating population" der MigrantInnen gleichberechtigte Stadtbürger zu machen. Auch hierbei hat es in mehreren Regionen bereits weitreichende Fortschritte gegeben.

Insofern ist das No.1 Central Dokument von 2014 Ausdruck des Versuchs, einen doppelten Transformationsprozess möglichst konfliktfrei zu organisieren: Zum einen den Strukturwandel der Landwirtschaft von einer bäuerlichen zu einer industriellen Produktionsweise, der in den vergangenen Jahren bereits erhebliche Fortschritte gemacht hat, zum anderen die fortschreitende Urbanisierung und Industrialisierung, die eine Neubestimmung des Verhältnisses von Stadt und Land notwendig macht, das bislang durch die Behandlung der ländlichen Regionen als bloßes ‚Hinterland’ für die Wachstumsstrategie geprägt war.

Quellen:Reuters, Food security, rural environment top China's policy agenda in 2014, January 19, 2014; Xinhua, No.1 Central Document targets rural reform, January 20, 2014