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iz3w Nr. 325 (Juli / August 2011)
Schwerpunkt:
Vorsicht Baustelle! Chinas roter Kapitalismus

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06/11

trend
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Keine Industrie ohne Hinterland.
Chinas Landwirtschaft im Dienst der Industrialisierung
von Uwe Hoering

Schon kurz nach dem Ende der Mao-Ära fanden in den ländlichen Regionen tiefgreifende Umwälzungen statt. Die bäuerliche Landwirtschaft stützt seither die Industrialisierung. Inzwischen ist die Agrarindustrie dabei, die Landwirtschaft ihren kommerziellen Interessen zu unterwerfen.

Lange Zeit hatte das System der Volkskommunen das ländliche China unter kommunistischer Herrschaft geprägt. Die Einführung des so genannten Household Production Responsibility System beendete 1978 dieses System auf einen Schlag. Zunächst auf Pilotbasis in der Provinz Anhui erprobt, ergriff die ländliche Bevölkerung in Windeseile überall im Land die Möglichkeit, eigenes Land zu bestellen.1 Innerhalb weniger Jahre sank die Zahl der Volkskommunen von über 50.000 auf 249.

Auch wenn die Dorfverwaltungen einen gewissen Einfluss auf die Nutzungsmöglichkeiten behielten und die Familien das Land zunächst nur pachteten, konnten sie doch mehr und mehr selbst entscheiden, was sie anbauten und wie sie mit den Ernten verfuhren. Damit entstand seit Beginn der 1980er Jahre eine bäuerlich strukturierte, kleinteilige Landwirtschaft, die in vielen anderen Ländern bereits durch die Konzentrationsprozesse der modernen Agrarindustrie verdrängt wurde.

Mit den neuen individuellen Nutzungsrechten, dem rasch wachsenden städtischen Markt sowie dem Technologiepakt der »Grünen Revolution« aus ertragreicherem Saatgut, Agrarchemie und Bewässerung gingen unzureichende Ernährung und Armut in vielen Regionen Chinas deutlich zurück. Für die östlichen und südöstlichen Landesteile mit den fruchtbarsten Böden, den besten Anbaubedingungen und der zahlungskräftigsten Nachfrage trifft dies besonders zu. Um »die Landwirtschaft zu verlassen, aber auf dem Land zu bleiben«, wurde zugleich die Gründung so genannter Township and Village Enterprises (TVE) gefördert. Industrielle Klein- und Mittelbetriebe wurden dabei durch Städte, Dörfer und landwirtschaftliche Betriebsgruppen eingerichtet. Innerhalb weniger Jahre stiegen die Einkommen in vielen ländlichen Regionen kräftig an. BeobachterInnen sprechen von den »Goldenen Jahren« für die Bäuerinnen und Bauern.2

Ruinöse Niedrigpreise

Landwirtschaft und Industrialisierung sind zwei Prozesse, die sich in China gegenseitig bedingen. Denn erstens machte der Aufschwung der Nahrungsmittelproduktion China für die nächsten Jahrzehnte weitgehend unabhängig von Importen. Die IndustriearbeiterInnen und die rasch wachsende städtische Bevölkerung konnten mit preiswerten Grundnahrungsmitteln versorgt werden. Zweitens entstand die industrielle Reservearmee der Nongming Gng, der Bauern-ArbeiterInnen, die als MigrantInnen die Arbeitskraft für die Entwicklung von Infrastruktur, Städtebau und exportorientierten Industrien lieferten. Die Kombination von Hukou-System und – wenn auch prekärer – Absicherung im ländlichen Bereich machte sie hochgradig ausbeutbar und trug dazu bei, Widerstand zu unterbinden. Drittens leisteten Steuern und Abgaben der Landwirtschaft einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung des lokalen und regionalen Staatsapparats – mit großem Spielraum für Willkür und Korruption.3

Der industrielle Aufschwung seit den 1980er Jahren ging einher mit einer Vernachlässigung der ländlichen Regionen und der Landwirtschaft. Staatliche Investitionen und Förderprogramme konzentrierten sich auf die Städte, auf Infrastruktur und auf die exportorientierte Industrialisierung. Zudem wurde die Landwirtschaft der wirtschaftlichen Liberalisierung geopfert: Nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) 2001 baute China als Gegenleistung für den Zugang seiner Industrieprodukte zum Weltmarkt Hürden für den Import von Agrarprodukten ab. Die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse gehören heute – von wenigen Ausnahmen wie für Reis und Weizen abgesehen – zu den niedrigsten weltweit. So wurde die einheimische Sojaproduktion, einst Einkommensquelle für Millionen Menschen, durch billige Importe etwa aus Brasilien nahezu zum Erliegen gebracht.

Gleichzeitig verschlechterte sich die Situation im Gesundheitsbereich und im Bildungswesen. Nur ein Viertel der nationalen Budgets für Grundbildung und öffentliche Gesundheitseinrichtungen floss 2002 in die ländlichen Gebiete, obwohl dort mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt. 2004 war noch jedes zweite Dorf ohne Anschluss an ein Trinkwassernetz.

Zudem stieß das Wachstum der Landwirtschaft an Grenzen. Die im Verhältnis zur Bevölkerung ohnehin knappen Ressourcen wie Land und Wasser4, die zudem regional und saisonal sehr ungleich verteilt sind, schrumpfen durch Umweltzerstörung, Übernutzung und Urbanisierung rasch weiter. Die Zahl der Bauern und Bäuerinnen, die durch Urbanisierung und Industrialisierung ihr Land verloren haben, wird auf 40 bis 50 Millionen geschätzt, jedes Jahr kommen zwei Millionen dazu. Ein weiterer Grund zur Sorge ist, wie sich der Klimawandel auf die Landwirtschaft auswirken wird.
Ein Indikator dafür, wie die Landwirtschaft und die ländlichen Regionen von der industriellen Entwicklung abgehängt wurden, ist das rasch wachsende Stadt-Land-Gefälle: 2004 betrug ein durchschnittliches Jahreseinkommen auf dem Land 2.900 Yuan, in den Städten 9.400 Yuan. 2009 war die Differenz auf 11.000 Yuan gestiegen, wobei die städtische Bevölkerung mit 15.700 Yuan mehr als drei Mal so viel verdiente.

New Socialist Countryside

Mehrere Entwicklungen trugen dazu bei, dass die Agrarfrage inzwischen wieder einen höheren Stellenwert bekommen hat. So brach um die Jahrtausendwende die Getreideproduktion von 512 Millionen Tonnen (1998) auf 430 Millionen Tonnen (2003) ein, teils wegen stagnierender Produktivität, teils weil immer mehr Bauern auf lukrativere Anbauprodukte wie Obst und Gemüse, auf agrarische Rohstoffe wie Baumwolle und Ölsaaten oder auf Tierhaltung umstellten. Damit war das nationale Ziel der »Ernährungssicherheit« bei Grundnahrungsmitteln gefährdet.

Außerdem nahm die Zahl der Konflikte zu. Vor fünf Jahren vermeldete das Ministerium für Öffentliche Sicherheit 87.000 »Zwischenfälle durch große Gruppen«, die meisten in den ländlichen Regionen. Oft geht es um Umweltschäden oder den Verlust von Land durch Industrialisierungsvorhaben und Bodenspekulation. Zwar ist die wirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft inzwischen – mit einem Anteil von kaum zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts – kräftig zurückgegangen. Das soziale und innenpolitische Gewicht der ländlichen Regionen, in denen knapp die Hälfte der Bevölkerung lebt, ist aber nach wie vor sehr hoch. Der Einbruch der Getreideproduktion, die zahlreichen Konflikte und die Unterschiede in Einkommen und Lebensbedingungen zwischen Stadt und Land trugen denn auch zu einem Umdenken in Beijing bei. Im Frühjahr 2006 formulierte die Regierung das Programm New Socialist Countryside, das unter anderem verstärkte Investitionen in die Landwirtschaft, höhere Sozialausgaben für die ländlichen Regionen und politische Reformen wie »partizipatorische Demokratie« vorsieht.

Gleichzeitig entstehen immer größere einheimische Agrarunternehmen wie die China State Farm Agribusiness Corporation (CSFAC), Agrarchemieunternehmen wie Sinofert, Tochter des staatlichen Ölkonzerns Sinochem, und COFCO, China National Oils, Foodstuffs and Cereals Corporation, Chinas größter Nahrungsmittelimporteur und -exporteur. Sie kontrollieren weitgehend die Erzeugung von Produktionsmitteln, den Agraraußenhandel und die landwirtschaftliche Produktion. Viele dieser Unternehmen sind im Besitz von Provinzregierungen, die damit ein wirtschaftliches Standbein erhalten, das ihre Eigenständigkeit stärkt. Die Agrarindustrie bedrängt zunehmend die bäuerliche Landwirtschaft und Viehhaltung und versucht, deren TrägerInnen als Vertragsbauern zu integrieren. Erhebliche Gelder fließen in die Agrarforschung, mit einem Schwerpunkt auf »Grüner« Gentechnologie, bei enger Zusammenarbeit mit globalen Life-Sciences-Unternehmen wie Monsanto. Ziel ist der Aufbau einer eigenen leistungs- und konkurrenzfähigen Biotech-Industrie, die den bislang dominierenden westlichen Konzernen Paroli bieten kann. Im Agrarbereich wird bereits großflächig Gen-Baumwolle angebaut, die Zulassung von Gen-Reis ist beantragt.
Zudem wächst der Druck, die Besitzverhältnisse bei Land, das nach wie vor kollektives Eigentum ist, in den ländlichen Regionen zu reformieren. Bislang sind Landnutzungsänderungen nicht eindeutig geregelt, was SpekulantInnen und lokale Behörden nutzen, um Bauern und Bäuerinnen zu vertreiben. Eine rein privat- beziehungsweise marktwirtschaftliche Lösung, wie sie Weltbank, OECD und einige ÖkonomInnen fordern, scheint allerdings (noch) nicht mehrheitsfähig. Die Regierung fürchtet, damit eine Landverkaufswelle loszutreten und die dauerhafte Abwanderung in die Städte weiter zu beschleunigen.

Um die unzureichende eigene Agrarproduktion zu ergänzen, wird China zunehmend auf dem Weltmarkt aktiv. Das gilt – im Gegensatz zu Alarmmeldungen über steigende Nachfrage nach Milch oder Fleisch und damit weltweit steigende Verbraucherpreise – weniger für Nahrungsmittel, sondern vor allem für Viehfutter. Bei Soja streitet China mit der EU um den Rang Eins als Importeur. Agrarindustrielle Rohstoffe wie Kautschuk, Baumwolle und Energiepflanzen zur Herstellung von Agrartreibstoffen werden ebenfalls für den Weltmarkt produziert. Dies sind auch die wichtigsten Bereiche für staatliche und private chinesische AgrarinvestorInnen, die bislang weniger in die Ferne nach Afrika oder Lateinamerika streifen, sondern in der Region investieren – etwa bei den kleinen Nachbarn Laos und Kambodscha, auf den Philippinen, oder auch – großflächig – in den benachbarten Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion.
Inzwischen eilt die Getreideproduktion abermals von Rekord zu Rekord und soll bis 2030 auf 540 Millionen Tonnen steigen. Gleichzeitig versucht die Regierung, den weiteren Verlust von Agrarland zu verhindern und mit der »Go West«-Kampagne in westlichen und südwestlichen Provinzen neue landwirtschaftliche Nutzflächen zu erschließen und Industrien anzusiedeln. Das kann nicht nur ökologische Probleme mit sich bringen, etwa durch Staudammbau, sondern auch Konflikte mit lokalen Bevölkerungsgruppen.

Grün ist die Landwirtschaft

Die Wiederentdeckung der Landwirtschaft und der ländlichen Regionen passt sich nahtlos in die Bemühungen ein, die Binnennachfrage und die Binnenmärkte zu stärken, um die industriellen Wachstumsraten aufrecht zu erhalten – eine Politik, die durch die jüngsten globalen Krisen bestärkt wurde. Ähnlich wie im Energiebereich, wo sie eine mehrgleisige Politik mit Atomenergie, Kohle und erneuerbaren Energien fährt, setzt die Regierung in ihrer Agrarpolitik auf alle Facetten einer landwirtschaftlichen Entwicklung: Auf in- und ausländische Agrarkonzerne und -industrie, auf Bio- und Gentechnologie, auf Offshore-Farming und den Weltmarkt, auf nationale Ernährungssicherheit bei Grundnahrungsmitteln, aber auch auf »Grüne Lebensmittel« und ökologische Landwirtschaft. Letzteres ist ein Bereich, in dem sich zivilgesellschaftliche Organisationen austoben können.

Preis- und qualitätsbewusste städtische KonsumentInnen, die auf Lebensmittelskandale oder steigende Preise unruhig reagieren, aber auch die Notwendigkeit, die landwirtschaftliche Produktion bei abnehmenden Ressourcen und ökologischen Problemen zu sichern, wecken bei einigen BeobachterInnen Hoffnungen auf eine ‚ökologische Landwirtschaft mit chinesischen Merkmalen’. Aber auch die europäische und US-amerikanische Agrarindustrie macht sich Hoffnungen auf einen Durchbruch im zukünftig wohl wichtigsten Markt für Agrarerzeugnisse und agroindustrielle Produkte, auch wenn dessen Erschließung noch am Anfang steht. Vermutlich sind diese Hoffnungen berechtigt.

Anmerkungen

1 Diese Reform war die erste der »Vier Modernisierungen«, die anderen drei Bereiche sind die Industrie, das Militär und Wissenschaft und Technologie.

2 Walden Bello: China – The party and the peasantry. 10. Juni 2009 (CETRI) Technologie.

3 Zur Situation auf dem Land und der Landwirtschaft siehe zum Beispiel Chen Guidi/ Wu Chuntao (2006): Zur Lage der chinesischen Bauern. Eine Reportage (Zweitausendeins)

4 Mit rund 20 Prozent der Weltbevölkerung verfügt China über weniger als zehn Prozent des weltweiten Agrarlandes. Je EinwohnerIn steht nur ein Drittel, nach anderen Berechnungen sogar nur ein Viertel der weltweiten Durchschnittsmenge an Wasser zur Verfügung.

Literatur

– Landwirtschaft in China: zwischen Selbstversorgung und Weltmarktintegration. Hg: Asienstiftung, Essen, Netzwerk »EU-China: Civil Society Forum«, Dezember 2010.


Uwe Hoering ist Publizist und betreibt unter anderem den Themendienst www.globe-spotting.de  
 


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