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Januar 2012: Rückblick, Ausblick

Zu Neujahr gehören die Rückblicke auf Ereignisse des vergangenen Jahres, die für wichtig erachtet werden, und der Versuch, vorausschauend mögliche Ereignisse und Entwicklungen zu benennen. Wie sieht das für die Globe-spotting-Themen anlässlich des Jahreswechsels 2011 zu 2012 aus?

 

Neue Grüne Revolution

Allgemein lässt sich feststellen, dass die Themen Landwirtschaft, Ernährung, Nahrungsmittelpreise und Hungerkrise im Kommen sind, ebenso wie die Zusammenhänge zwischen Landwirtschaft und Klimaveränderungen, wobei der Agrarbereich gleichzeitig als Opfer und als Verursacher gilt. Besonders auf der globalen Ebene ist die Landwirtschaft solide zurück auf der politischen Agenda, sei es in der G20 der Industrie- und Schwellenländer oder in der Weltbankgruppe. Vor allem hat das Land grabbing eine breite Diskussion über landwirtschaftliche Entwicklungen und sozioökonomische Umwälzungen in ländlichen Regionen ausgelöst. Vieles spricht dafür, dass sich das im neuen Jahr fortsetzen wird: Zum einen gehen die verschiedenen Versuche weiter, die großflächigen Landnahmen durch in- und ausländische Investoren mit Richtlinien (siehe Blog-Beitrag vom Juni 2009: "Leitlinien für Landraub") und Verhaltensregeln zu regulieren und zu legitimieren. Zum anderen steht zu erwarten, dass die Proteste wachsen und zunehmend koordiniert werden, wobei allerdings unterschiedliche Interessen verschiedener beteiligter Bevölkerungsgruppen in vielen Fällen den Widerstand zu spalten drohen.

Entwicklungen wie die Finanzspekulation und die Suche von Investoren nach neuen Investitions- und Geschäftsfeldern, etwa mit Agrartreibstoffen oder im Emissionshandel, werden den Druck auf die bestehenden bäuerlichen Agrarstrukturen weiter erhöhen. Damit droht ein neues Bauernlegen: Ein Teil der Bauern wird bei der kapitalistischen Inwertsetzung mithalten können, weil sie über genügend Kapital oder Land verfügen, und als Vertragsbauern in die agrarindustrielle Verwertungskette integriert werden. Ein weiterer Teil kann wohl noch eine Zeitlang weiter existieren wie bisher, wenn auch ständig am Rande der Subsistenz. Andere aber werden ihr Land verlieren und entweder in die Städte gehen oder auf den neuen Plantagen arbeiten. Damit würde in vielen Regionen, besonders in Afrika, ein tiefgreifender sozioökonomischer Strukturwandel vorangetrieben, der auch die Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen vor eine ganz neue Situation stellen würde.

 

Tausend Alternativen

Hoffnungen weckt auf der anderen Seite, dass mit der Wiederentdeckung der Landwirtschaft, mit Umwelt- und Ernährungskrise, mit Land grabbing und Agrarinvestitionen auch die Diskussion über Alternativen neuen Auftrieb erhalten hat. Die positive Rolle bäuerlicher Landwirtschaft für Armutsminderung, Umweltschutz und Ernährungssicherung rückt stärker in den Fokus, ihre unzureichende Unterstützung durch die Politik wird breit beklagt. Es scheint, als sei mit einiger Verzögerung die Botschaft des Weltagrarberichts, „Business as usual“ im Agrarbereich sei nicht länger möglich, bei den Entscheidungsträgern in Staat, Wirtschaft und internationalen Organisationen angekommen. Gleichzeitig ist eine Bewegung für Alternativen wie städtische Landwirtschaft oder Community Supported Agriculture entstanden, vor allem aber werden Konsummuster ebenso wie die Praktiken der industriellen Nahrungsmittelproduktion – von Tierfabriken bis hin zur Vernichtung von Nahrung - thematisiert.

Nicht immer geht es beim Hohelied auf die bäuerliche Landwirtschaft allerdings um Alternativen, die die bestehenden Strukturen bäuerlicher Landwirtschaft erhalten und verbessern und eine ressourcenschonende, ökologisch nachhaltige Landwirtschaft produktiv und einträglich machen wollen. Auch die Agrarindustrie, Supermarktketten und Nahrungsmittelhersteller haben die Vorteile bäuerlicher Landwirtschaft erkannt und suchen nach neuen „Geschäftsmodellen“, um die Betriebe in ihre Produktions- und Wertschöpfungsketten einzubinden - was neue Risiken und knebelnde Abhängigkeiten bedeuten kann. Ob die zahlreichen und vielfältigen alternativen, selbstbestimmten und oftmals gemeinschaftlichen Ansätze, die in vielen Ländern entstanden sind, dem Druck der Agrarindustrie werden standhalten können, hängt auch davon ab, wie die Auseinandersetzung um die gegenwärtig laufende Reform der Europäischen Agrarpolitik (CAP) verlaufen wird, in der sich zahlreiche Organisationen, Gruppen und Verbände engagieren (Siehe "Meine Landwirtschaft"), und in deren Windschatten auch die Fischereipolitik der Europäischen Union auf dem Prüfstand steht.

 

Internationale Wasserpolitik

Während noch bis vor einigen Jahren die Privatisierung städtischer Wasserwerke, die negativen Auswirkungen großer Staudammvorhaben oder die sich in vielen Ländern und Regionen abzeichnende Wasserkrise ein zentrales Thema der entwicklungs- und umweltpolitischen Auseinandersetzung war, scheint die Wasserpolitik inzwischen verstärkt zu einem Nischenthema geworden zu sein, trotz ihrer Bedeutung für Gesundheit, menschenwürdiges Leben und die wirtschaftliche Entwicklung, ganz entscheidend natürlich auch für die Entwicklungen im Agrarbereich. Dabei ist der Durst privater Investoren und damit der Druck auf die Wasserressourcen und auf eine öffentliche, demokratisch kontrollierte Versorgung ungebrochen, ja, er scheint mit der Krise eher wieder größer zu werden. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit werden in vielen Ländern neue Großstaudämme wie Gibe III in Äthiopien geplant und gebaut, um Strom zu erzeugen und die großflächige Bewässerungslandwirtschaft voranzutreiben. Das 6. World Water Forum Mitte März in Marseille ist eine Chance, die politische Aufmerksamkeit der Zivilgesellschaft wieder stärker auf diesen Bereich zu lenken (siehe das Alternative Forum FAME). Dabei steht die Aufgabe auf der Tagesordnung, die Wasserdiskussion stärker mit anderen Themen wie Klima, landwirtschaftlicher Entwicklung und dem Trend zur Privatisierung im staatlichen, besonders im kommunalen Bereich (PPP) insgesamt zu verknüpfen. Mit den Kampagnen gegen Öffentlich-private Partnerschaften (Gemeingüter in BürgerInnenhand) oder für Commons, die nicht zuletzt durch den Wirtschaftsnobelpreis für Elinor Ostrom Aufwind bekommen haben, bieten sich hier Ansätze, die „Wasserkrieger“ aus ihrer relativen Isolierung heraus zu holen.

 

Vorsicht, Weltbank!

Ähnlich überraschend ist, dass die Weltbankgruppe, in den achtziger und neunziger Jahren ein Lieblingsgegner vieler globalisierungskritischer Bewegungen und Organisationen, es geschafft hat, sich weitgehend aus der Schusslinie zu bringen. Dabei haben sich ihre politische Grundlinie, die Kreditvergabe an strikte und oftmals nachteilige Auflagen zu knüpfen, und ihre Vorliebe für marktwirtschaftliche Lösungen und Privatwirtschaft nicht wesentlich geändert. Besonders die Aktivitäten der International Finance Corporation, IFC, und der Multilateral Investment Guarantee Agency, MIGA, sind in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden, um eine Privatisierung in vielen Bereichen, darunter auch Wasser und Landwirtschaft, voranzutreiben.

 

Landwirtschaft in China

Die Landwirtschaft in China und ihre Auswirkungen auf die weltweiten Agrarmärkte ist nach wie vor weitgehend terra incognita, verlässliche oder gar systematische Informationen sind rar, etwa über Land grabbing durch chinesische Unternehmen. Dabei gibt es auf der einen Seite spannende Ansätze, die Landwirtschaft auf eine umweltverträgliche Weise zu modernisieren und Belastungen von Nahrungsmitteln und Umwelt durch Agrargifte und Dünger zu verringern. Auf der anderen Seite zeigen die jüngsten Proteste im südchinesischen Wukan (siehe taz vom 16.12.2011), dass das Konfliktpotential groß ist. Vor allem der Verlust von Land beziehungsweise die unzureichende Entschädigung sind zentrale Konfliktanlässe, aber auch Umweltschäden, die die landwirtschaftliche Produktivität beeinträchtigen. Es wird interessant sein zu verfolgen, inwieweit es der Regierung in Zukunft gelingen wird, diese Brisanz durch ihre Politik der New Socialist Countryside aufzufangen. Denn Bauernbewegungen haben in der Vergangenheit immer wieder den Staat erschüttert.

 

Rio+20 unterm Zuckerguss

Mit Rio+20 wird im Juni in der brasilianischen Metropole ein UN-Gipfel stattfinden, bei dem auch einige der Globe-spotting-Themen auf der Tagesordnung stehen werden – wenn auch gegenüber den beiden Hauptthemen Green Economy und institutionelle Reformen (Aufwertung des UN-Umweltprogramms UNEP) weniger dominant. Trotz erheblicher Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieses Unterfangens (siehe Blog-Beitrag "Boykottiert Rio+20") sind inzwischen die Beteiligten, zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen eingeschlossen, munter dabei, den Stellenwert und die Bedeutung dieser Nachfolgekonferenz des sogenannten 'Erdgipfels' von 1992 (UN Conference on Environment and Development, UNCED) hoch zu hängen, die Erfahrungen mit den mageren Resultaten früherer ähnlicher Veranstaltungen zu verdrängen und auf einen neuen Elan („Rio20+“) zu hoffen.

Der Bedeutungsverlust der Vereinten Nationen und die Verlagerung wichtiger Entscheidungen in die G20, das World Economic Forum und andere, von der Industrie dominierte Entscheidungsgremien bedeutet für die Zivilgesellschaft eine Neubestimmung ihrer Rolle und Möglichkeiten. Auch hier sieht es nach einem Ausscheidungsverfahren aus, das sich im kommenden Jahr beschleunigen könnte: Eine Reihe großer nichtstaatlicher Umwelt- und Entwicklungsorganisationen, die eng mit Regierungen und Wirtschaftsverbänden zusammenarbeiten, werden auch weiterhin florieren. Ein anderer Teil verliert dagegen zunehmend an Geld und Einfluss, ein erschreckender Erosionsprozess, der gerade unter globalisierungskritischen, international vernetzten Organisationen stattfindet. Inwieweit zwischen Einbindung einerseits und Abgrund andererseits noch Raum bleibt für eine eigenständige Arbeit, die über die kritisch-konstruktive Kooperation hinaus widerständige Alternativen und transformierende Perspektiven verfolgen kann, bleibt abzuwarten.

Es zeichnet sich allerdings ab, dass sich das zivilgesellschaftliche Spektrum immer weiter auseinander entwickelt und unter anderem die Kluft zwischen Umwelt- und Entwicklungsorganisationen, zwischen sozialen Bewegungen und staatsnahen Organisationen größer wird. Die tiefgreifenden Umwälzungen im ländlichen Bereich, in dem viele zivilgesellschaftliche Organisationen zumindest teilweise verankert sind oder Kooperationspartner haben, beschleunigen möglicherweise eine Neuerfindung des Verhältnisses zu Staat, Wirtschaft und sozialen Bewegungen. Durch die Notwendigkeit, gegen den Anschlag der Industrialisierung und der damit einhergehenden Verdrängung und Vertreibung die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen zu verteidigen und tragfähige alternative Perspektiven zu entwickeln und umzusetzen, entwickelt sich möglicherweise eine neue Dynamik globalisierungskritischer und transformatorischer Politik.

Uwe Hoering