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Kritischer Dialog über Ernährungssouveränität

Von Uwe Hoering, September 2013

Das Konzept der Ernährungssouveränitat, das im Wesentlichen von La Via Campesina entwickelt wurde, hat sich als wirkungsvolle Kritik an der kapitalistischen industriellen Landwirtschaft und als Gegenentwurf für eine landwirtschaftliche und ländliche Entwicklung, die an der Stärkung der bäuerlichen Landwirtschaft ansetzt, etabliert. Bei einer internationalen Konferenz Mitte September an der Yale University soll es einem „kritischen Dialog“ unterzogen werden.  Zahlreiche Beiträge liegen bereits vor, darunter der Beitrag „Food Sovereignty: A skeptical view“ von Henry Bernstein, unter anderem langjähriger (Mit)herausgeber von Zeitschriften wie dem Journal of Peasant Studies und dem Journal of Agrarian Change. Bei aller Sympathie setzt er sich darin kritisch mit dem Konzept „as a political project and campaign, an alternative, a social movement, and an analytical framework“ auseinander.

Der Beitrag liefert erheblichen Zündstoff für die Diskussion. Nach einem Exkurs über die Entstehung des Konzepts der Food Sovereignty als „a comprehensive attack on corporate industrialised agriculture for its devastations, both ecological and social“ wirft Bernstein eine Reihe von sehr grundlegenden kritischen Fragen auf. Einige zentrale Punkte, die sich in seiner vielschichtigen und breit angelegten Argumention für mich herauskristallisieren, sollen im Folgenden angerissen werden.

 

„Agrarian Populism“

Erstens konstatiert er einen „agrarian populism“, der mit dem Konzept der Ernährungssouveränität einhergehe: „the social and moral superiority of ‚peasant’ (or ‚small-scale’) farming, and now centre-stage its ecological superiority too“. Das Konzept formuliere einen Gegensatz zwischen kapitalistischer Landwirtschaft und einer „’alternative modernity’ based in an ecologically wise and socially just rationality“. Bernstein dagegen stellt nicht nur die Idealisierung der bäuerlichen Landwirtschaft und die Annahme einer einheitlichen Kategorie von ‚Kleinbauern’ in Frage, sondern sieht die bäuerliche Landwirtschaft auch längst weitgehend in die warenförmige Agrarproduktion, die kapitalistischen Bedingungen unterliegt, eingebunden: “My basic position is (..) that there are no ‚peasants’ in the world of contemporary capitalist globalisation“. Mit dem Versuch einer „positive construction“ der Kleinbauern als „the other“ zur kapitalistischen Landwirtschaft werde von den vielfältigen Bruchlinien, unterschiedlichen wirtschaftlichen und Klassen-Interessen in der ‚peasant economy’ abstrahiert.

 

Die Welt ernähren

Eine zentrale Säule des Engagements von La Via Campesina und vielen Wissenschaftlern und entwicklungspolitischen Organisationen für eine bäuerliche Landwirtschaft ist die Überzeugung, dass sie das Potential hat, einen ausreichenden Überschuss über die Selbstversorgung (Subsistenz) und die Reproduktion einer ‚ländlichen Arbeiterklasse’ hinaus zu produzieren, um den wachsenden Bedarf der städtischen Bevölkerung zu decken. Dagegen bezweifelt Bernstein, „that ‚peasants’ practising low-(external) input and labour-intensive farming can feed current and projected world population“. Zusätzlich verweist er auf die ungelöste Frage, wie eine Vermarktung aussehen soll, ohne die weder die Steigerung der Einkommen der bäuerlichen Betriebe noch eine gesicherte Versorgung der Verbraucher, besonders der einkommensschwachen Verbraucher erreicht werden kann. Das Konzept sei nicht geeignet „of constructing a feasible programme to connect the activities of small farmers with the food needs of non-farmers“. Für die Sicherung der Welternährung setzt er eher auf die „extraordinary development of productivity in capitalist farming“.

 

Transformation

Drittens stellt er in Frage, dass das Konzept geeignet sei, über den Widerstand  gegen die Expansion der globalen Agrarindustrie hinaus das politische Programm „for the constitution of a new, sustainable and socially just world food order“ sowie  für eine Transformation des Welternährungssystems bereitzustellen. Unter anderem sieht er ein widersprüchliches Verhältnis zur Rolle des Staates: so sei ohne „comprehensive and progressive state action“,  also beispielsweise erhebliche Subventionen oder grundlegende Änderungen in der Agrarpolitik, die Umsetzung des Konzepts der Ernährungssouveränität nicht zu haben – doch diese Frage werde „little problematised or explored beyond appeals to the state“. Generell sei die Bewegung  mit der (ungelösten) Frage konfroniert, „how to position itself in relation to the established powers of states and international bodies“ - über Formen des organisierten politischen Widerstands hinaus. Er sieht kaum Ansätze, aus der Vielzahl berechtigter und teils erfolgreicher Themen und Kämpfe breite soziale Bewegungen auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene zu entwickeln und hält das angesichts der Komplexität der „diverse range of issues and sometimes conflicting goals“ und der „intricate class contours of ‚peasant’ countrysides“ auch für schwierig. Angesichts der bewussten Zurückhaltung des Generalsekretariats von La Via Campesina, eine politische Führungsrolle zu spielen – wofür Bernstein durchaus auch gute „philosophische und praktische“ Gründe einräumt - , stellt er die provokante Frage: „Could it be that a new Food Security  ‚International in the making’ or ‚global agrarian resistance’ needs a politbureau after all?“.

 

Kritischer Dialog

Möglicherweise legt Bernstein bei seiner Auseinandersetzung mit dem Konzept der Ernährungssicherheit – und implizit auch mit der Rolle von La Via Campesina - die Messlatte zu hoch, erwartet er zu viel, argumentiert er doch vor dem Hintergrund eines umfassenden linken/marxistischen Verständnisses von polit-ökonomischer Analyse und politischer Bewegung. Auch geht er nur ansatzweise darauf ein, dass manche Diskussionen, die er einfordert, bereits laufen. Er ignoriert weitgehend die zahlreichen Beispiele und Studien, die das wirtschaftliche, ökologische und soziale Potential der bäuerlichen Landwirtschaft hervorheben. Und möglicherweise unterschätzt er auch das Potential, die Kreativität und die zunehmende Vernetzung von Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen im Agrarbereich und deren Verknüpfung mit anderen sozialen Bewegungen, beispielsweise im städtischen Raum oder mit Gewerkschaften von Plantagenarbeitern. Deshalb sind bei der Konferenz – und gerne auch auf Globe-spotting - spannende Diskussionen und vermutlich heftiger Widerspruch zu erwarten. Aber ein derartiger Anstoß zur Reflexion, wie es analytisch und politisch weiter gehen kann, ist zweifelsohne auch notwendig.

Siehe auch Henry Bernstein, Class Dynamics of Agrarian Change, 2010 (Link) und eine Besprechung davon durch Bhumika Chauhan auf Radical Notes, March 19, 2012.