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"Nahrung muss reisen"

Freihandel als ökologische und moralische Verpflichtung

von Uwe Hoering, Februar 2012

 

Mit der Ankündigung, er werde „schwierige“ und „unangenehme Fragen“ behandeln, schürte Pascal Lamy die Spannung auf seine Rede bei einer Konferenz der Zeitschrift The Economist in Genf, wo auch die Welthandelsorganisation WTO ihren Sitz hat, deren Generaldirektor er ist. Bei dem Treffen „Feeding the World“ Anfang Februar machten sich führende Manager aus Agrar- und Lebensmittelindustrie (unter anderem von Nestlé, Cargill, Du Pont, Monsanto und Mars) Gedanken darüber, wie die Welt und neun Milliarden Menschen ernährt werden können, wie nachhaltige Ansätze in der Landwirtschaft gefördert und wie der private Sektor zu einem nachhaltigen globalen Ernährungssystem beitragen kann – noble Anliegen von Konzernvertretern, deren Unternehmen mitverantwortlich sind für den wenig nachhaltigen Zustand des gegenwärtigen Systems. Ein Beispiel dafür, dass die Fragenden nicht allein schon deshalb, weil sie fragen, auch zu richtigen Antworten kommen, war der Beitrag von Pascal Lamy.

Dabei war seine erste Frage durchaus „unangenehm“, etwa für Brasilien, einen führenden Agrarexporteur, oder die subventionierten US-Farmer. Ist es gut für die Ernährungssicherheit, so der WTO-Generaldirektor, dass die Agrarproduktion der Welt konzentriert ist in einer Handvoll Ländern? Die naheliegende Ergänzungsfrage, ob es 'ernährungssicher' sei, dass der weltweite Agrar- und Nahrungsmittelhandel in der Hand einiger weniger Konzerne liegt, stellte er dagegen nicht – wohl aus Rücksicht auf die Anwesenden.

Auch seine zweite Frage ist in der Tat schwierig: „Was machen wir mit Afrika?“ Heerscharen von Politikern, Wissenschaftlern und zivilgesellschaftlichen Organisationen arbeiten sich an Antworten ab. Lamys einfaches Rezept, wie der Kontinent vom Ernährungssicherungsproblem zum Schlüssel für die globale Ernährungssicherung von morgen werden könne: Er müsse einfach das „Wunder“ nachmachen, wie Brasilien binnen 30 Jahren vom Nahrungsmittelimporteur zu einem der wichtigsten Agrarproduzenten der Welt wurde. Ansätze dafür sieht er bereits: Die Warenbörse in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba beispielsweise „revolutioniert Äthiopiens Landwirtschaft durch die größere Preistransparenz, die sie bringt“. Und Mangos aus Mali können dank holländischer Unterstützung nun erfolgreich und gewinnbringend exportiert werden.

Das war es dann aber auch schon mit den schwierigen und unangenehmen Fragen. Stattdessen wurde Lamy zum Tourismusmanager: „Nahrung muss reisen“, formulierte er einen griffigen Slogan für das alte Paradigma, dass internationaler Handel notwendig sei, um Wettbewerb und Standortvorteile auszunutzen. Angesichts von Klimawandel und der ungleichen Verteilung knapper Ressourcen wie Land und Wasser sei der Agrarhandel inzwischen nicht nur eine ökonomische Frage, sondern „wird zu einer ökologischen Verpflichtung“. Ebenso sei es eine „moralische Verpflichtung“, Überschüsse aus einem Land dahin zu exportieren, wo gerade Knappheit und Mangel herrschen. Und deshalb sei es notwendig, das WTO-Regelwerk, „oder die Bibel, wie manche sagen“, fortzuschreiben und das Agrarabkommen von 1994 (Agreement on Agriculture) zu vollenden. Subventionen müssten weiter abgebaut werden. ebenso Exportrestriktionen, die nach seiner Lesart „das Herz der sogenannten Nahrungsmittelpreis-Krise von 2008 waren“, da sie Panikkäufe und Vorratshaltung auslösten. Also mehr Freihandel! Wie die Produkte erzeugt werden, interessiert ihn dagegen kaum.

Bekanntlich können ja Antworten dadurch vorgegeben werden, wie die Fragen gestellt werden. Und Lamy stellt seine Fragen so, dass die von ihm gewünschten Antworten herauskommen. Anstatt seine durch seinen Job determinierten eigenen Gedanken auszubreiten, hätte er vielleicht mal Agrarexperten fragen sollen, die die Ernährungskrise längst nicht mehr allein als Verteilungsproblem sehen, sondern auch auf der Produktionsseite verorten, verschärft durch Faktoren wie Spekulation oder Agrarenergiepflanzen. Oder, noch besser, die Bauern und Bäuerinnen, welche Regeln sie sich wünschen, um die Ernährungssicherheit zu verbessern.

Auch wenn es Spaß macht - es geht hier nicht um Lamy-Bashing oder 'Hau-den-Pascal'. Als WTO-Generalsekretär reitet er momentan nur noch ein müdes Pferd, da die Doha-Entwicklungsrunde längst eingeschläfert wurde und die Entscheidungen woanders fallen, bilateral oder bei der G20 der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Es geht vielmehr um die anscheinend unausrottbare Ideologie, freier Handel sei die Lösung für die Ernährungskrise und die Marginalisierung weiter Teile der Landwirtschaft in Afrika. Und um die rhetorischen und argumentativen Verrenkungen, die notwendig sind, um dieses Dogma weiterhin aufrecht zu erhalten. (4.800 Zeichen)