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Reportagen & Analysen

Landnahmen in historischer und globaler Perspektive

August 2014: Der Sammelband, herausgegeben von Birgit Englert und Barbara Gärber, vereint AutorInnen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere der Internationalen Entwicklung und der Soziologie, aber auch aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Geographie, der Rechts- und Politikwissenschaft sowie der Sinologie und den Afrikawissenschaften.

Sechs der 14 Beiträge behandeln historische und aktuelle Landnahmen in Afrika, drei weitere Studien analysieren Entwicklungen in Asien – darunter die Geschichte, Konflikte und Differenzierungen innerhalb der Landrechtsbewegung auf den Philippinen und eine vergleichende Studie über die Landfrage und die Auswirkungen der Kollektivierung des Bodens im maoistischen China und der Sowjetunion. Neben historischen Landnahmen wird natürlich auch aktuelles „Landgrabbing“ thematisiert, unter anderem in einem allgemeinen Überblick über Akteure, Prozesse und Strategien und in einer Fallstudie zu Äthiopien, die Ansatzpunkte für eine polit-ökologische Analyse diskutiert.

Teils explizit, teils implizit werden dabei zahlreiche weitere Aspekte von Landgrabbing angesprochen wie die Rolle von Agrarkraftstoffen, genderspezifische Konsequenzen aktueller Landnahmen - lange Zeit eine Leerstelle in der sozialwissenschaftlichen Forschung, die zunehmend durch neue Texte gefüllt wird - die Aneignung von Wasser, die mit den Landnahmen einhergeht, konservative Naturschutzkonzepte oder der Tourismus, der beispielsweise bei Landnahmen im Kontext der Tsunami-Katastrophe in Südostasien eine Rolle spielte.

 

Unterschiedliche Landnahmen

Mit diesen vielfältigen Beiträgen weitet der Sammelband den Blick berechtigterweise aus über den Kampfbegriff Landgrabbing hinaus auf unterschiedlichste Formen von Landnahme und historische Situationen. Anliegen ist, Landgrabbing nicht nur in seiner aktuellen Ausprägung zu diskutieren – was in der Tat bereit sehr erschöpfend geschehen ist – sondern auch in historischer Perspektive zu beleuchten und damit Kontinuitäten in Bezug auf Landnahmen aufzuzeigen. Dazu gehören dann Landnahmen, Enteignung und Vertreibung im Zuge kolonialer Eroberungsprozesse wie beispielsweise in den Amerikas, Australien und Ozeanien durch meist europäische Invasoren, deren legitimatorisches Konzept der Terra Nullius (Land ohne rechtlichen Eigentümer im westlichen Sinne) beim aktuellen Landgrabbing wieder in der Formel des „ungenutzten Landes“ auftaucht.

Auch im afrikanischen Kontext spielte die Verneinung indigener Eigentumsrechte bei der Kolonisierung eine wichtige Rolle, besonders in den Siedlerkolonien. Allerdings ist es fraglich, wie weit diese Landnahmen tatsächlich grundlegende Parallelen zum „modernen“ Landgrabbing, das gelegentlich auch als neokolonial bezeichnet wird, aufweisen, wie im einleitenden Beitrag der Herausgeberinnen behauptet wird. Denn nicht nur die treibende Motivation hinter heutigem Landgrabbing – die mit der „multiple global crises of food, energy, finance and environment resulting from economic/climate changes and geopolitical shifts“ eher abstrakt beschrieben wird - ist neu, sondern auch die Formen wie beispielsweise Pacht statt Eigentum, (pseudo)-legale Aneignungen statt direkter Gewalt oder die Existenz - wenn auch unzureichender - internationaler Regelungen wie den Richtlinien für Responsible Agricultural Investment (rai), die gegenwärtig verhandelt werden, oder den Voluntary Guidelines on the responsible Governance of Land, Fisheries and Forests der UN-Organisation für Landwirtschaft, FAO. Ebenso unterscheiden sich die Akteurskonstellationen heute wesentlich von der Kolonialzeit, etwa die Position und Rolle des Staates in den Zielländern oder die Verhandlungsmacht und Interessenlagen lokaler Bevölkerungen, die ihren Widerstand aber auch die Bereitschaft zur Kooperation mit ausländische Investoren und Investitionen prägen.

 

Landreformen

Historische Grundlagen für das gegenwärtige Landgrabbing kann man hingegen in verschiedenen Prozessen postkolonialer Landreformen sehen, sei es durch autoritäre Regime, sei es unter demokratisch legitimierten Regierungen: Dadurch wurde in vielen Staaten Land im Besitz von verschiedenen Bevölkerungsgruppen nationalisiert und damit in staatliche Systeme integriert und dem Zugriff des Staates unterstellt. Ein wichtiges Element des gegenwärtigen Landgrabbing ist denn auch die zentrale Rolle des Staates als Eigentümer, als nationaler Sachwalter oder als Entwicklungsstaat, dessen Anspruch höher gestellt wird als die verschiedenen bestehenden partikularen Nutzungsrechte.

Mit unterschiedlichen Formen von Landrechtsreformen wird von Weltbank und anderen versucht, zwischen den unterschiedlichen Rechtsansprüchen zu vermitteln - meist mehr schlecht als recht, sprich: Sie tragen zu einer beschleunigten Enteignung herkömmlicher Nutzungsrechte und damit zu einer raschen Umwälzung von sozialen, wirtschaftlichen und Geschlechterverhältnissen bei. Dazu gehört das Aufbrechen der oftmals einst komplementären Nutzung von Land für Ackerbau und für nomadische, mobile Tierhaltung, wobei die zunehmende Verknappung durch Umweltdegradierung oder Urbanisierung durch Nutzungsänderungen im Zuge moderner Landnahmen verschärft wird. Dazu gehört aber auch, dass in familiären Kontexten Land zu einer immer stärker umkämpften Ressource wird, wovon besonders Frauen und deren häufig auf Ernährungssicherung ausgerichtete Landnutzung betroffen sind. Dementsprechend bildet denn auch die Analyse von Widerstandsstrategien derer, die von Landnahmen betroffen sind, einen  roten Faden, der sich durch mehrere Artikel hindurchzieht.

 

Kontinuität und Differenz

So sinnvoll und anregend die Ausweitung des Blickes über die aktuelle Diskussion um Landgrabbing hinaus ist – die Beiträge bleiben vereinzelt nebeneinander stehen. Zumindest eine vergleichende Analyse von Unterschieden, Gemeinsamkeiten und Zusammenhängen zwischen den verschiedenen historischen und regionalen Studien wäre hilfreich. Zu kurz kommt damit auch die besondere, globale Brisanz der aktuellen Prozesse von Landnahmen, ihre neuen Akteure wie Agrar- und Finanzinvestoren, wirtschaftliche und geopolitische Triebkräfte und Motive.

Es handelt sich beim gegenwärtigen Landgrabbing eben nicht nur um eine weitere Form der Landnahme in mehr oder minder deutlicher Kontinuität. Was heute unter dem Begriff Landgrabbing gefasst wird, ist vielmehr Ausdruck einer grundlegenden Verschiebung in der globalen Agrarindustrie, neuer Machtverhältnisse und Interessenkonstallationen und einer damit einhergehenden fundamentalen Umwälzung im Agrarbereich und damit in ländlichen Regionen. Indem diese neue Qualität der agrarpolitischen Dynamik, die dem Landgrabbing zugrunde liegt, ausgeblendet wird, fehlt nicht nur die Trennschärfe zwischen historischen und aktuellen Landnahmen. Auch die Studien über aktuelle Fälle von Landgrabbing selbst bleiben begrenzt, da oft die Bezugspunkte fehlen, um Triebkräfte, Widerstandsformen und politische Aktionsformen einzuschätzen oder gar neue Strategien sozialer Bewegungen zu entwickeln. Doch das hätte wohl den Rahmen des Buches gesprengt.

Birgit Englert / Barbara Gärber (Hg.), Landgrabbing. Landnahmen in historischer und globaler Perspektive. Wien (new academic press) 2014