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Chinas Aufstieg: Die Milch macht's

Zum Tag der Milch (1. Juni), von Uwe Hoering, Mai 2012

Der Aufschwung der Milchwirtschaft ist beispielhaft für die Entwicklung in China. Praktisch aus dem Nichts heraus wurde die Industrie, trotz ständiger Lebensmittelskandale, zu einer Marktmacht - zunächst im Land selbst, jetzt greift sie nach Unternehmen, Farmen und Märkten in anderen Ländern.

Der Nationale Volkskongress, der wie jedes Jahr im März in Beijing stattfand, trank Biomilch: Telunsu, nach eigenen Angaben der größte Hersteller von Biomilch, war als offizieller Lieferant auserwählt. So waren zumindest die Delegierten sicher, keine Chemikalien oder Antibiotika zu trinken – ein Luxus, der trotz erheblicher Anstrengungen noch immer nicht für alle Milchprodukte, die auf den Markt kommen, gelten kann. Doch Politik und Wirtschaft arbeiten Hand in Hand, um den Melamin-Skandal vergessen zu machen und die Milchwirtschaft, die traditionell eine geringe wirtschaftliche Rolle spielte, zu immer neuen Höhen zu führen.

 

Wachstum durch Milch

Begonnen hatte es hoffnungsfroh: Nachdem eine Studie im Auftrag von Nestlé und Dairy Australia die wachstumsgläubigen Politiker in Beijing überzeugt hatte, dass Kinder durch Milch größer werden, brachte ein landesweites Schulmilchprogramm, das 1998 gestartet wurde, den Durchbruch für den Konsum von Milch, Milchpulver und Joghurt. Die holländische Rabobank, die auf den Agrarbereich spezialisiert ist, lobte: “Die chinesische Regierung hilft, eine neue Generation von Milchkonsumenten zu schaffen. Chinesische Firmen haben dadurch genügend Möglichkeiten, durch den wachsenden einheimischen Markt ihre Produkte abzusetzen”.

In der Tat wuchs der Absatz in den folgenden Jahren meist mit zehn bis 15 Prozent im Jahr, schneller als die Wirtschaft insgesamt. 2007 überholte China als Milchproduzent Russland und Pakistan und rückte auf den dritten Platz hinter Indien und den USA vor. Zwei Drittel der Milch lieferten rund 1,5 Millionen kleine Familienbetriebe mit durchschnittlich fünf Kühen. Die Erträge waren vielfach niedrig, die Qualität schwankte, steigende Kosten wurden teilweise durch Subventionen abgefangen.

Parallel dazu entwickelte sich die Verarbeitungsindustrie. Mehrere hundert größere Betriebe entstanden, darunter zahlreiche Gemeinschaftsunternehmen mit ausländischen Konzernen. Der neuseeländische Genossenschafts-Konzern Fonterra beispielsweise, der weltweit größte Exporteur von Milchprodukten, tat sich mit der Sanlu-Gruppe, einem staatlichen Unternehmen aus der Milchprovinz Hebei, zusammen, das französische Unternehmen Danone im Dezember 2006 mit Mengniu Dairy, Chinas größtem Milchverarbeiter. Der Schweizer Lebensmittelgigant Nestlé baute über 20 Verarbeitungsbetriebe und das größte Milchforschungszentrum in Asien auf.

 

Wendepunkt Melamin-Skandal

Der Melamin-Skandal 2008 wurde zum Desaster – und zum Wendepunkt: Die Industriechemikalie, die unter anderem die Nieren schädigt, wurde systematisch Milch zugesetzt, um einen höheren Proteingehalt vorzutäuschen. Mindestens sechs Kinder starben, 300.000 wurden krank. Nahezu alle großen Firmen waren an dieser Praxis beteiligt, die besonders exponierte Sanlu-Gruppe musste die Produktion einstellen, unter anderem, weil ihr Miteigentümer Fonterra um seinen Ruf fürchtete. Zwei Manager wurden zum Tode verurteilt.

Der Skandal erschütterte nicht nur das Vertrauen in die Milch, sondern in die Sicherheit von Nahrungsmitteln insgesamt, zumal Behörden an der Vertuschung des Skandals beteiligt waren. Der Absatz brach ein, die Milchpreise zusammen, die Industrie lag am Boden.

Als Antwort auf den Skandal und die öffentliche Empörung der städtischen Mittelschichten, die über Verschleierung und fehlende Kontrollen sauer waren, setzte der Staat unter anderem mit dem Consolidation and Development Plan for the Dairy Industry rigide Vorschriften durch: Über 7.000 Milchsammelstellen wurden geschlossen, Lizenzen für Unternehmen widerrufen. Mindestens 40 Prozent der chinesischen Betriebe gaben bis 2011 auf.

Milchviehhalter wurden angewiesen, ihr Vieh in einem der Genossenschaftsbetriebe oder in “Kuh-Hotels” unterzubringen, der Einsatz von Melkmaschinen vorangetrieben. Die verbliebenen Sammelstellen sollen besser überwacht werden. Aber die Regierung kündigte auch an, dass auch Großunternehmen, die bis 2008 von Inspektionen verschont geblieben waren, stärker kontrolliert würden.

Die Vorschriften und höheren Standards und der dadurch herbeigeführte Konzentrationsprozess über die gesamte Produktionskette hinweg nutzte der Industrie, für die die Milchsammlung einfacher wurde. Besonders ausländische Markenfirmen profitierten vom schlechten Ruf der chinesischen Unternehmen und konnten ihren Absatz kräftig steigern, oftmals indem sie Milchprodukte importierten.

Nicht so viele Bauern. Im Dorf Qingbao in der Provinz Hebei beispielsweise haben 30 Bauern mit zusammen 800 Kühen einen Abnahme-Vertrag mit der Inner Mongolia Yili Industrial Group, einem der führenden Milchverarbeiter. Monatliche Einnahmen von bis zu 10.000 Yuan, umgerechnet rund 1.100 Euro, klingen gut. Doch die Bauern klagen, dass sie die Risiken wie schwankenden Absatz oder Maul- und Klauenseuche tragen und ihre Kosten ständig steigen, während die Abnehmer die Preise drücken. „Yili setzt den Preis fest“, zitiert die Zeitung China Daily vom 6. Juli 2011 einen von ihnen, “ich habe in den vergangenen Jahren keinen Gewinn gemacht”. Immer mehr kleine Milchviehhalter geben die Tierhaltung daher auf. “Wer überlebt, wird einmal gut Lachen haben”, hofft ein Verbandssprecher.

 

Globale Auswirkungen

Denn nach dem Einbruch durch den Melamin-Skandal geht der Boom weiter, wenn auch unter veränderten Bedingungen. Die Produktion ist weitgehend in der Hand einiger weniger in- und ausländischer Großunternehmen. Der Aufschwung der Milchwirtschaft hat zudem dazu beigetragen, dass Chinas Agrarimporte in den vergangenen zehn Jahren kräftig angestiegen sind. War das Land 2004 noch ein Nettoexporteur, so lag das Handelsdefizit im Agrarsektor 2011 bereits bei 34 Milliarden US-Dollar, bei einem Importvolumen von 95 Milliarden US-Dollar, berichtet China Daily vom 31. März 2012. Zwar machen Milchprodukte davon nur einen kleinen Teil aus. Sie kommen vor allem aus den USA, Neuseeland und Australien, während die EU-Bauern bislang kaum einen Fuß in die Tür bekamen. Dennoch hat der chinesische Konsum inzwischen globale Auswirkungen, da der Weltmarkt für Milchprodukte “dünn” ist, sprich: Weniger als zehn Prozent der Produktion gehen in den internationalen Handel, entsprechend gewichtig ist die Nachfrage aus China.

Wichtiger ist die Einfuhr von Viehfutter. Verwendeten die Bauern bis vor kurzem noch herkömmliche, lokal verfügbare Futtermittel wie Gras oder Ernte-Nebenprodukte, so sind sie jetzt mehr und mehr auf standardisierte, industriell hergestellte Futtermittel angewiesen. Auch hier gehören die USA zu den wichtigsten Lieferanten, beispielsweise von Mais, aber auch der mächtige Soja-Produzent Brasilien liefert in erheblichem Umfang.

Die Qualitätsoffensive kurbelte auch die Geschäfte der globalen Zuchtunternehmen an. So vereinbarte die britische Genus, deren Tochterfirma ABS das größte Rinderzuchtunternehmen ist, mit dem Marktführer Mengniu Dairy, dessen Vertragsbauern zu beliefern.

Auch die globalen Lebensmittelkonzerne drängen nach wie vor auf den Markt. Denn die Nachfrage in den Industrieländern ist weitgehend gesättigt, während chinesische Verbraucher erst ein Fünftel des weltweiten Pro-Kopf-Verbrauchs schaffen. Als Teil der Expansion in "aufstrebende Märkte" ist beispielsweise die neuseeländische Genossenschaft Fonterra dabei, das Geschäft in China ausweiten. Bis 2020 soll die Produktion um das 20fache gesteigert werden. Das Unternehmen betreibt bereits zwei Verarbeitungsbetriebe, drei weitere sind geplant. Alle befinden sich in der Provinz Hebei, um den kaufkräftigen Markt in Beijing zu bedienen. Fonterra will eine integrierte Produktionskette aufbauen, um von der steigenden Nachfrage nach höherwertigen Produkten und dem Image-Bonus, den ausländische Unternehmen genießen, zu profitieren.

Inzwischen mehren sich aber die Anzeichen, dass Chinas Unternehmen selbstbewusster und selbständiger werden, nachdem die ausländischen Konzerne ihnen mit Technologietransfer und Expertise auf die Beine geholfen haben. So schloss Danone im März 2012 zwei seiner Joghurt-Fabriken, nachdem mehrere Versuche, mit chinesischen Konkurrenten wie Mengniu, Bright Dairy oder Wahaha zusammen zu arbeiten, gescheitert werden. Einheimische Unternehmen, so Beobachter, hätten inzwischen genug Eigenkapital, um auf ausländische Beteiligung verzichten zu können. Sie würden aber auch zunehmend auf ihre eigenen Markennamen setzen. Denn die Großen sind inzwischen konkurrenzfähig geworden, mit eigenen riesigen Weidegründen und mit einigen -zigtausend Vertrags-Lieferanten.

Gleichzeitig treten chinesische Unternehmen immer häufiger selbst als Investoren auf: Wahaha beispielsweise, der größte Getränkehersteller, will australische Verarbeitungsbetriebe kaufen und Milchpulverfabriken aufbauen, in Neuseeland haben mittlerweile zahlreiche Farmen chinesische Eigentümer. Und die New Hope Group, Chinas größter Futtermittelhersteller, will zusätzlich zu 16 bereits bestehenden Fabriken im Ausland jedes Jahr vier weitere aufmachen. 

 

Biomilch aus China

Noch allerdings gelten chinesische Milchprodukte “als die schlechtesten der Welt”, wie die Zeitung China Daily den Vorsitzenden der Guangzhou Dairy Association zitiert – mit geringem Proteingehalt und hoher Belastung durch Bakterien. Im Dezember vergangenen Jahres machten wieder Skandale Schlagzeilen – Agrargifte in Produkten einer Tochtergesellschaft von Coca-Cola, Giftstoffe in Mengniu-Milch. Mitte des Jahres hatte in den Medien ein heftiger Schlagabtausch zwischen den Bestrebungen, die Nahrungsmittelsicherheit zu verbessern, und den Geschäftsinteressen der Industrie getobt, die durch massive Lobby-Arbeit eine Verwässerung der Standards durchgesetzt hatte.

Wie bereits mit anderen Agrarprodukten versuchen einzelne Unternehmen aber auch, mit Bio auf den internationalen Märkten zu punkten. Der Milchlieferant des Volkskongresses, Telunsu, hat bereits bei der Messe BioFach in Nürnberg Kontakte geknüpft. Bereits ganz öko, rühmt sich das Unternehmen, eine nährstoffreiche Milch ohne Rückstände und Zusätze zu liefern, von glücklichen Kühen, die kein gentechnisch verändertes Futter bekommen und in einer „komfortablen Lebensumwelt“ leben.

Mit Inputs von Susanne Gura

Siehe dazu auch: "Der Preis für das 'Gute Leben'", (Download pdf-Datei), "Fatale Lust auf Schwein" (Download pdf-Datei) und "Grüne Revolution wird grüner" (Download pdf-Datei)

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