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Reportagen & Analysen

Über das Recht auf Nahrung und seine Umsetzung

Das neue Ernährungssicherungs-Gesetz in Indien

von Uwe Hoering, Oktober 2013

Das Recht auf Nahrung ist, so scheint es, mittlerweile allgemein anerkannt. Jetzt kommt es darauf an, den Anspruch auch umzusetzen. Das Ernährungssicherungs-Gesetz (National Food Security Bill), das Anfang September vom indischen Parlament verabschiedet wurde, könnte ein Meilenstein dafür sein. Und es könnte den Widerspruch zwischen überquellenden Vorratslagern und Getreideexporten auf der einen Seite, verbreitetem Hunger auf der anderen lösen. Doch die Chancen dafür stehen schlecht.

Die wichtigsten positiven Aspekte des Gesetzes sind schnell aufgezählt: Vor allem ist da die Ausweitung des Anrechts, mit subventioniertem Getreide versorgt zu werden, auf zwei Drittel der 1,2 Milliarden Menschen in Indien. Jeder von ihnen soll über das bestehende Öffentliche Verteilungssystem (Public Distribution System, PDS) fünf Kilogramm Getreide im Monat erhalten, für umgerechnet zwei bis vier Euro-Cent je Kilo, ein Zehntel des Marktpreises. Die Aufnahme von Hirse in die Verteilung ist für das Millet Network of India ein weiterer wesentlicher Erfolg, die Belohnung langjähriger Lobby- und Kampagnenarbeit. Dadurch könnten Millionen Kleinbauern, die Hirse anbauen, von staatlichen Aufkaufpreisen profitieren. Zudem eröffnet das Gesetz die Möglichkeit, durch eine Dezentralisierung der Lagerhaltung und durch die Beteiligung von Selbsthilfeorganisationen, Frauengruppen oder Selbstverwaltungsinstitutionen am PDS Fehlallokation und Schwarzmarktgeschäfte einzudämmen.

Wichtigste Voraussetzung für einen Erfolg des Gesetzes wäre eine grundlegende Reform des bestehenden Verteilungssystems: Die staatliche Food Corporation of India, FCI, kauft zu einem Garantiepreis (Minimum Support Price) Getreide auf, das über ein landesweites Netz von Fair Price Shops an rund 25 Prozent der Bevölkerung, die unterhalb der Armutsgrenze leben, verteilt werden soll. Dieses System ist aufwändig, anfällig für Korruption und Missbrauch, viele arme Familien gehen leer aus, ein erheblicher Teil der Getreidemengen, die aufgekauft werden, verrotten in Lagerhallen der FCI. Doch die notwendigen Reformen stoßen auf ein Strukturproblem: Das Ernährungssicherung-Gesetz wurde von der Zentralregierung in Delhi gemacht, die auch das Getreide zur Verfügung stellt, die Umsetzung hängt jedoch weitgehend von den einzelnen Bundesstaaten ab. Und deren Politik folgt eigenen Gesetzmäßigkeiten.

Zweitens bringt das Gesetz keineswegs eine gesicherte Ernährung für alle. Die Hälfte der städtischen und ein Viertel der ländlichen Bevölkerung ist davon ausgenommen, ohne dass es bislang klare Auswahlkriterien gibt. Die zur Verfügung gestellte Getreidemenge reicht vielfach kaum, um regelmäßig satt zu werden, für eine gesunde Ernährung fehlen zudem Gemüse und Speiseöl. Für die Right to Food Campaign, ein Netzwerk von Organisationen, Individuen und Vertretern politischer Parteien, ist das Gesetz denn auch „Stückwerk“ und „bringt nicht annähernd Ernährungssicherheit“ (Frontline, August 9, 2013). Jean Drèze, der als Mitglied des National Advisory Council an der Erarbeitung des Gesetzes beteiligt war und wegen Meinungsunterschieden zurücktrat, sieht den „möglicherweise gravierendsten Mangel des Gesetzes darin, dass es nicht wirklich einklagbare Rechte für jeden schafft, weil die Auswahl der berechtigten Haushalte den Landesregierungen überlassen bleibt“.

Das Gesetz setzt zudem primär auf Verteilung. Gegenwärtig gibt es dafür erhebliche Reserven, die FCI hat weitaus mehr Getreide aufgekauft und auf Lager, als für die Verteilung erforderlich wäre. Doch insgesamt wächst die Nahrungsmittelproduktion deutlich langsamer als die Nachfrage, die nicht zuletzt durch die höhere Kaufkraft und Ansprüche der Mittelschichten angetrieben wird. Ohne eine Agrarpolitik, die erfolgreich die Produktion von Nahrungsmitteln umfassend fördert, könnte es schon bald zu einer Konkurrenz zwischen Staat und Ernährungsindustrie, zwischen garantierter Ernährungssicherheit und privaten Gewinninteressen kommen.

Wirtschaftsverbände und Finanzmarkt haben denn auch gegen das Gesetz schwer Stimmung gemacht. Die Subventionen, so die Argumentation, würden das Haushaltsdefizit vergrößern, das schwindende Investoren-Vertrauen in Indiens Wirtschaft weiter schwächen und die Kreditwürdigkeit des Landes herabstufen. Geflissentlich werden dabei andere Ursachen für Defizit und Wirtschaftsflaute wie Steuervermeidung und -hinterziehung, Subventionen für die Industrie, Milliarden-Investitionen in Großprojekte oder weltwirtschaftliche Verwerfungen ausgeblendet. Gelungen ist es den neoliberalen Gegnern zwar nicht, das Gesetz zu Fall zu bringen. Aber sie haben darin die Möglichkeit für Transferzahlungen und Nahrungsmittelgutscheine untergebracht und damit für einen Einstieg in die Privatisierung der Ernährungssicherung. Bereits jetzt haben Geschäftemacher beispielsweise Teile des öffentlichen Schulspeisungsprogramms übernommen.

So ist weder das Gesetz selbst der große Wurf. Noch ist seine Umsetzung ein klarer Fall. Damit steht ein gesicherter Zugang zu ausreichender Ernährung für alle weiterhin in den Sternen. Und das Gesetz wäre im Endeffekt wohl tatsächlich nicht mehr als was ihm manche Gegner vorwerfen: Ein Wahlgeschenk im Vorfeld der nächsten Parlamentswahlen im kommenden Jahr.

Siehe auch den Bericht"Assessing a decade of progress on the right to food" über Fortschritte bei der Anerkennung und Umsetzung des Rechts auf Nahrung, den Olivier De Schutter, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, für die Generalversammlung der Vereinten Nationen verfasst hat (August 2013).

Siehe auch: Indien - Ernährungssicherheit per Gesetz? In: Widerspruch 64: Ernährung - Agrobusiness oder Agrikultur. 33. Jg./1. Halbjahr 2014, S. 128-136. Inhalt und Editorial